Das Altpapier am 5. November 2018 Die Kartoffel ist keine Leberwurst

Die Neuen Deutschen Medienmacher verleihen einen Negativpreis. "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt lehnt ihn ab, nimmt aber dafür einen Teil der schönen Aufmerksamkeit mit nach Hause. Ein Altpapier von Klaus Raab.

"Man kann sich die Situation gut vorstellen: Jemand erhält einen Brief mit der Information, dass man die 'Goldene Kartoffel' erhalte. Dem Betreffenden stellt es die Fragezeichen ins Gesicht und er sinniert: 'Ist das etwas Gutes?' Ja, das ist es." Befand die Frankenpost vor ein paar Tagen. Edmund Stoiber war der Zeitung zufolge 1998 der erste Preisträger der "Goldenen Kartoffel". Sternekoch Alfons Schuhbeck hat sie bekommen. Karl-Theodor zu Guttenberg. Professor Dr. Günter Dippold, Bezirksheimatpfleger in Oberfranken, selbstverständlich auch. Und 2012 sogar Friedrich II. der Große, (1712-1786), König von Preußen. Letzterer vermutlich in Abwesenheit.

Bild-Chefredakteur Julian Reichelt jedoch hat sie zurückgewiesen. Er hat es am Wochenende abgelehnt, die "Goldene Kartoffel" mit nach Hause zu nehmen. Und da lag sie dann am Samstagabend nach der Verleihung noch, die Kartoffel: als wäre sie eine Leberwurst.

Gut, vielleicht weil es sich nicht um den gleichnamigen Preis der Stadt Rehau handelte, die mit ihrer Goldenen Kartoffel darauf hinweisen möchte, "dass im Ortsteil Pilgramsreuth im 17. Jahrhundert der feldmäßige Kartoffelanbau in Deutschland seinen Anfang nahm". Sondern um den nagelneuen Preis der NDM, der Neuen Deutschen Medienmacher. (Ende des überdreht angefeatureten Texteinstiegs.)

Der Preisträger

"Der Preis wird laut NDM für 'besonders einseitige oder missratene, kurz: für unterirdische Berichterstattung über Aspekte unserer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft' vergeben" (Süddeutsche vom Montag). Dass Reichelt den Preis bekommen sollte, liege daran, dass die Bild-Zeitung "unter seiner Führung konsequent für 'Unsachlichkeit, Vorurteile und Panikmache stehe, wenn es um die Themen Integration, Migration und Asyl geht'" (Süddeutsche vom Samstag, €). Es handelt sich also in der Tat um einen Negativpreis.

Dieser Preis ist verdient. Vor allem Übermedien (nochmalige Lektüreempfehlung) oder auch das Bildblog (das im Juni etwa schrieb: "Seit dem 21. April im Schnitt etwa alle zwei Tage eine große oder kleine Titelstory über Asyl/Flüchtlinge. Als hätte die Redaktion erkannt, dass der Skandal beim BAMF der richtige Zeitpunkt ist, um die Streichhölzer wegzupacken und das Sturmfeuerzeug zum weiteren Zündeln rauszuholen") haben das für meine Begriffe zum Beispiel eindrucksvoll belegt. Reichelt hat seit 2015 mehrfach darauf hingewiesen, dass bei Bild keine Unmenschen arbeiten; das ist auch nicht der Vorwurf. Aber dass die Migrations-Berichterstattung von Bild unter seiner Leitung mittlerweile negative Emotionen und Angst schürt, ist unübersehbar.

Nun haben solche Auszeichnungen "mit vielen Bild-Schlagzeilen etwas gemeinsam: Sie sind kalkulierte Affronts, Zuspitzungen, die der eigenen Zielgruppe gefallen und bei anderen anecken sollen" (Samstags-SZ). Das heißt nicht, dass sie keinen Sinn hätten: "Im besten Fall weisen Negativpreise auf ein echtes Problem hin, im Kartoffel-Fall etwa, dass Teile der Medienwelt die Themen Flucht und Asyl heute überreizt und in diskriminierender Weise angehen." Die Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher, Sheila Mysorekar, wurde zitiert:

"'Manchmal braucht man ein bisschen Provokation, um im Anschluss darüber vernünftig diskutieren zu können.' Von Reichelts Amtsvorgänger Kai Diekmann sei ihr Verein mit heute etwa 300 Mitgliedern noch zur Blattkritik eingeladen und ernst genommen worden. Sie wünsche sich eine Debatte über die wachsende Ausländerfeindlichkeit und deren Wurzeln in der Berichterstattung."

Und wer weiß, vielleicht entsteht diese vernünftige Debatte noch.

Julian Reichelt allerdings hat erstmal zur Kenntnis gegeben, dass er weiß, wie man Geschichten umbiegt: Er ist dann doch nicht einfach nicht zur Preisverleihung gekommen, wie die SZ noch in der Samstagsausgabe vorab gemutmaßt hat ("wie sich das für die Verleihung solcher Negativpreise gehört, wird der Gewinner voraussichtlich eher nicht anwesend sein"). Sondern er war da und hat sich dafür etwa ein "Chapeau" selbst von der taz und kurze Folgeberichterstattung von der Montags-SZ abgeholt. Er hat dort eine Rede gehalten, die via Twitter nachzuhören ist. Und stand am Ende dann nicht mehr nur als Kritisierter, wie noch im Vorfeld, sondern vielmehr selbst als Kritiker da.

In der SZ trägt der knapp 1000 Zeichen lange Einspalter, der am heutigen Montag der Vorberichterstattung folgt, den Titel "Reichelts Kartoffel" und handelt zu vier Fünfteln von seiner Reaktion auf die an ihm geübte Kritik.

Bei turi2 gibt es einen "Klick-Tipp: Kartoffel-Preisträger Julian Reichelt verteidigt sich und 'Bild'."

Und auf den Seiten des Deutschlandfunks etwa findet sich über die Online-Suche im Nachgang zu der Preisverleihung nur eine Nachricht. Die Überschrift lautet: "Bild-Chef verweigert Negativpreis 'Goldene Kartoffel' mit Hinweis auf Rassismus gegen Deutsche".

Reichelt ist die Nachricht, der Negativpreis nur der Anlass.

Die Ablehnung

Was war eigentlich die Nachricht? Im Kern war es der zehnte Geburtstag des Vereins Neue Deutsche Medienmacher. Der Tagesspiegel kommt dem Anlass mit seiner Berichterstattung am nächsten. Dort geht es tatsächlich in weiten Teilen um den Verein, von dem man sagen kann, dass er ja nun wirklich sinnvolle Dinge tut:

"Inzwischen ist NdM zu einer wichtigen Treiberin des Wandels in deutschen Redaktionen geworden, personell wie inhaltlich. Hießen bis dahin nur magere vier Prozent der Redakteurinnen und Reporter in Zeitungen, Funk und Online-Medien anders als Müller, Meier, Schulze, so sind es heute sichtbar mehr." Ein Mentoringprogramm, ein "Wörterbuch der Einwanderungsgesellschaft", der "Vielfaltfinder", die Schaffung von Weiterbildungsmöglichkeiten, das alles wird erwähnt und ist ja auch erwähnenswert.

Aber, wie gesagt, Julian Reichelt hat sich vom knappen Gut Aufmerksamkeit einen ziemlichen Share abgeschnitten. Dabei ist es ganz schön schlicht, wie er die Ablehnung des Preises begründete – hier etwa die Formulierung von den Seiten des Deutschlandfunks:

"Er begründete dies damit, dass das Wort 'Kartoffel' rassistisch gegenüber Deutschen benutzt werde. (…) Reichelt verwies auf den Gebrauch des Wortes an Brennpunktschulen, 'wo Migration keine Erfolggeschichte ist', und sagte an die Veranstalter gerichtet, das hätte sie von dem Wort abschrecken sollen: 'Kartoffel ist nämlich dort eine Beschimpfung geworden, die sich tatsächlich auf Rasse und Herkunft bezieht und das ist in keiner Weise liebevoll gemeint.'"

Die Begründung folgt der Logik, derzufolge Klagen über Rassismus mit Gegenklagen über vermeintlichen Rassismus gegenüber Deutschen einfach neutralisiert werden: Wenn auf Schulhöfen "Kartoffel" gesagt wird, muss man strukturellen Rassismus nicht als Problem ernstnehmen, weil: die doch auch!

Damit ist Reichelt, der die eigentliche Kritik an der Bild-Berichterstattung in seiner Rede lediglich mit einem Halbsatz pauschal zurückgewiesen hat, also tatsächlich hier und da durchgedrungen. Die Bild-Berichterstattung über Geflüchtete und ein paar Zwölfjährige, die auf Pausenhöfen "Kartoffel" sagen, werden – zumindest in der Nachberichterstattung zur Preisverleihung – quasi gleich behandelt. Dass er, wie die taz sehr ungeschickt formulierte, "einen geflüchteten Journalisten aus Syrien", Mohammed Rabie, "mitbrachte, als Token mit auf die Bühne nahm und ihn die Bild-Zeitung verteidigen ließ", spricht auch dafür, dass er nicht reumütig und naiv im Büßerhemd in ein Tribunal gestolpert ist, um dessen Funktionsweise er nicht gewusst hätte.

Ob es also, alles in allem, eine "überraschende und mutige Geste" von Reichelt war, dort zu erscheinen, wie es auch heißt, oder in erster Linie professionelles Marketing, müsste man vielleicht nochmal überdenken. So eine Gelegenheit lässt er doch im Gegensatz zu einer Kartoffel nicht liegen.

Altpapierkorb (Freedom of the Net, "Prism Is A Dancer", "Der Mordanschlag")

+++ Endlich mal was von Jan Böhmermann: Er hat sich, anders als in seiner Fernsehshow (Altpapier vom Freitag) im "Fest&Flauschig"-Podcast bei Spotify dann doch noch ernsthaft zu den Vorwürfen des Antisemitismus geäußert (ab Minute 54:50). Und zwar so: „Vier hauptberufliche Komiker haben sich 2010, vor acht Jahren, im Rahmen eines Roasts zu Serdar Somuncus 25-jährigem Bühnenjubiläum im FZW in Dortmund in Reaktion auf das damals frisch erschienene Buch von Thilo Sarrazin, das erste Buch, gemeinsam einen Sketch ausgedacht. Vier Leute. Gemeinsam ausgedacht. Gemeinsam geprobt. Gemeinsam aufgeführt. Alle Beteiligten haben ihre Rollen freiwillig selbstbestimmt gespielt, in gegenseitigem Einverständnis, im Rahmen der Veranstaltung, alle Zuschauer haben das nachvollzogen. Niemand hat von zu Hause Requisiten mitgebracht (…), es wurde alles vor Ort gemeinsam geprobt und aufgeführt. Alle Beteiligten haben im Nachhinein zugestimmt, dass es auf DVD veröffentlicht wird. (...) Ich finde, es steht jedem (…) Komiker frei, seine eigene Arbeit, seine Rolle nachträglich (…) neu zu bewerten oder anders zu interpretieren. Das verändert aber nicht den tatsächlichen inhaltlichen performativen Kontext von Aufführungen im Nachhinein.“

+++ Der "Freedom of the Net"-Report 2018 ist raus, Netzpolitik und Tagesspiegel haben ihn gelesen.

+++ Der Spiegel hat laut epd/faz.net "kulanzweise" eine Unterlassungserklärung gegenüber der AfD-Bundestagsfraktion abgegeben, da man "kein Interesse an einer möglichen, aber sinnlosen gerichtlichen Auseinandersetzung" habe. Wegen einer Kolumne von Markus Feldenkirchen, in der er "Fehltritte von AfD-Bundestagsabgeordneten auflistete, die sich im weiteren Verlauf des Textes als erfunden herausstellten. Diese Auflösung war im Internet vorerst nur hinter einer Bezahlschranke zugänglich."

+++ Jan Böhmermanns Show "Prism Is A Dancer" lief am Freitag im ZDF-Hauptprogramm. SpOn, die FR online oder Zeit Online haben rezensiert. Donnerlippchen!

+++ Dass Merkel "Mut­ti" in den Wort­schatz po­li­ti­scher Be­richt­er­stat­tung ein­ge­zo­gen ist, schreibt Tobias Rüther in der FAS, "ist der ty­pi­sche Fall ei­ner durch jour­na­lis­ti­sche Re­fle­xe – Ab­schrei­ben, Nach­äf­fen, Lo­cker­heits­zwang, In­si­der­tum – her­vor­ge­brach­ten Schein­rea­li­tät".

+++ Ebd. (€) gratuliert Iris Berben ihrem Vorgänger Günter Rohrbach als Präsident der Deutschen Filmakademie zum 90. Geburtstag.

+++ Die meisten Fernsehrezensionen des Montags gibt es zu "Der Mord­an­schlag" über das RAF-At­ten­tat auf Det­lev Kars­ten Roh­wed­der (20.15 Uhr, ZDF). Etwa im Tagesspiegel, in der FAZ oder in der SZ.

Neues Altpapier gibt es am Dienstag.