Hendrik Meyer steht auf einer Brücke in Prag
Der Harzer Hendrik Meyer ist vor über 20 Jahren nach Prag ausgewandert. Bildrechte: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE

20 Jahre EU-Osterweiterung Wie ein Heteborner in Prag zum erfolgreichen Geschäftsmann wurde

01. Mai 2024, 19:00 Uhr

Die Ängste waren groß bei der EU-Osterweiterung vor 20 Jahren – und das auf beiden Seiten. In Deutschland fürchtete man eine Welle billiger Arbeitskräfte aus dem Osten. Viele Tschechen hatten Angst, dass ihr kleines Land in einem großen Europa spurlos verschwindet. Den Heteborner Hendrik Meyer zog es damals nach Prag, wo er bis heute lebt. Seine Geschichte zeigt: Die Befürchtungen haben sich nicht bestätigt.

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Sein Schreibtisch ist blitzblank aufgeräumt, so liebt es Hendrik Meyer. Der gebürtige Heteborner ist vor mehr 20 Jahren nach Prag gekommen – noch vor der EU. Inzwischen leitet er hier das größte Immobilienportal Tschechiens, ist Chef von etwa 200 Mitarbeitern. Dass ihm die Stadt einmal durch die bodentiefen Fenster seines Penthouse-Büros zu Füßen liegen wird, war dabei keineswegs vorgezeichnet. Er habe sich in Prag selbst hochgearbeitet, erzählt Meyer. Das – und nicht seine Herkunft – schaffe ihm Respekt bei seinen Mitarbeitern.

Ost-West-Animositäten wie in Deutschland erlebe er in der tschechischen Hauptstadt kaum. Auch dass Meyer die Sprache des Nachbarlandes schnell und fließend gelernt hat, schafft Anerkennung.

Eine der täglichen Besprechungen im Konferenzraum der Firma. Es geht um eine Übernahme. Die Investitionen fließen längst nicht mehr nur von West nach Ost. Heute will das tschechische Portal einen deutschen Konkurrenten übernehmen – welchen, das soll noch geheim bleiben. Doch es zeige, so Meyer, dass auch tschechische Firmen im Spiel der internationalen Konzerne durchaus mithalten können.

Menschen an Computern in einem Großraumbüro
Hendrik Meyer ist in Prag Chef von etwa 200 Mitarbeitenden. Bildrechte: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE

Der Boom und seine Schattenseiten

Wirtschaftlich habe die Erweiterung Tschechien fraglos genutzt, sei ein voller Erfolg. Im Land herrscht praktisch Vollbeschäftigung, die Löhne steigen. Doch die Verwerfungen von Covid und der russischen Aggression in der Ukraine wirken nach, und die Inflation der letzten Jahre haben viele noch nicht verdaut. Es war die höchste im Euroraum, mit zeitweise 20 Prozent.

Dennoch ist Prag heute nach Eurostat die viertreichste von 242 Regionen der EU. Das Bruttoinlandsprodukt der Stadt liegt bei 207 Prozent des EU-Schnitts. Unablässig steigende Immobilienpreise sind in Meyers Branche die Folge. Doch die Zahlen sind getrieben von Firmengewinnen, sie spiegeln nicht das Lebensniveau des Durchschnittspragers, der im Schnitt gerade einmal 2.200 Euro brutto nach Hause trägt.

Meyer sieht daher auch die Schattenseiten des Booms. Die meisten Innenstadt-Wohnungen sind für Normalverdiener nicht mehr zu bezahlen, werden via AirBnB vermietet. Wenn er am Nachmittag mit der Familie über die Karlsbrücke schlendert, dann trifft Hendrik Meyer Touristen aus aller Herren Länder, aber immer wenige richtige Prager, die noch im Zentrum zu Hause sind.

Hendrik Meyer sitzt mit blauem Sakko und weißem Hemd in einem Büro.
Hendrik Meyer in seinem Büro Bildrechte: Bezrealitky s.r.o.

Sorgen haben sich verloren

Auch Meyer selbst wohnt in der Vorstadt, in den Hügeln über Prag. Hier renoviert die Familie gerade ein schlichtes Einfamilienhaus. Keine Chef-Allüren, aber einen großen Garten für die Kinder. Seit zehn Jahren ist er mit seiner Frau Dana ein Paar. Sie ist Tschechin, die zwei Söhne, acht und sechs Jahre alt, wachsen zweisprachig in bunter deutsch-tschechischer Mischung auf. "Ich hatte Angst vor dem EU-Betritt", erinnert sich Ehefrau Dana an das Frühjahr vor 20 Jahren. "Wir haben gedacht, dass sich unser kleines Land im großen Europa verlieren wird."

Eine Familie spielt an einem Tisch
Mit seiner Frau und den beiden Kindern lebt Meyer in einer Prager Vorstadt. Bildrechte: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE

Eine Sorge, die sich zwei Jahrzehnte später völlig verloren habe. Heute ist die Familie ganz selbstverständlich auf beiden Seiten der Grenze unterwegs, zu Hause in Böhmen genauso wie in Sachsen-Anhalt. Und die Unterschiede? Die Tschechen seien unkonventioneller und kreativer, sagt Hendrik Meyer – und die Deutschen pünktlicher. Ein Wort, das es im Übrigen auch in die tschechische Umgangssprache geschafft hat – im Sinne von exakt, gründlich. Es gibt viele Klischees im deutsch-tschechischen Miteinander – aber auch die Möglichkeit, das Beste von beiden Seiten zu wählen.

Wo das Beste zu finden ist, darüber gibt es für viele Tschechen keinen Zweifel: zu Hause natürlich. Obwohl die deutsch-tschechische Grenze mit 817 km für beide Länder der jeweils längste Grenzabschnitt zu einem Nachbarn ist, blieb die befürchtete Welle von Dumpinglohn-Arbeitern in Deutschland aus – sowohl aus Tschechien im Besonderen wie aus den neuen EU-Staaten insgesamt. Aktuell sind in Deutschland rund 820.000 Arbeitnehmende aus den EU-Beitrittsländern von 2004 tätig; das sind 2,4 Prozent aller Beschäftigten, darunter nur rund 50.000 Tschechen.

Gehälter in Tschechien weiterhin niedriger als in Deutschland

Eine Verdrängung von deutschen Arbeitnehmenden, wie ursprünglich befürchtet, ist nicht eingetreten. Nur selten sind Arbeitskräfte aus den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern in Deutschland in anspruchsvollen, höher qualifizierten Bereichen tätig. Viele springen dort ein, wo die Jobs aufgrund niedriger Löhne oder ungünstiger Arbeitsbedingungen für heimische Arbeitskräfte wenig attraktiv sind. Für Deutschland ist das ein Plus, denn, so hört man auch aus sächsischen Kommunen, der Fachkräftemangel habe sich längst zu einem regulären Arbeitskräftemangel ausgewachsen – und das in Deutschland wie in Tschechien.

Zwei Jahrzehnte nach dem EU-Beitritt sind nicht nur die Gehälter weiterhin auf einem niedrigeren Niveau als beim deutschen Nachbarn. Auch in den Regionen ist zu sehen, dass die Entwicklung vielerorts langsamer vorangeht. In Deutschland sind nach der Wende Milliarden in die Sanierung des Ostens geflossen. Rote Verbundstein-Gehwege sind das Denkmal dieser Zeit.

Die EU-Osterweiterung Die EU-Osterweiterung bezeichnet den EU-Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern und Malta am ersten Mai 2004. Sie war die größte Erweiterung in der Geschichte der EU von damals 15 auf 25 Staaten.

Sie gilt als wichtiger Schritt in Richtung politischer Stabilität und wirtschaftlicher Zusammenarbeit, sowie als wichtiger Schritt zur Wiedervereinigung Europas nach der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" und dem Zerfall des Ostblocks sowie der Sowjetunion.

Die Osterweiterung der EU war für Staaten und Menschen mit verschiedenen Hoffnungen und Ängsten verbunden und wird unterschiedlich bewertet.

Doch über viele Fortschritte haben sie die Menschen in den neuen Bundesländern nicht freuen können, weil sie nicht selbst erarbeitet waren, sondern aus dem Westen übergestülpt wurden, findet der gebürtige Heteborner Hendrik Meyer, der in Quedlinburg aufgewachsen ist. Die Tschechen hätten ihren Weg selbst finden dürfen und müssen, sagt Meyer – auch wenn vieles im Lande grauer ist, sei die Stimmung dennoch besser als in großen Teilen seiner alten ostdeutschen Heimat.

Halberstädter Würstchen im Rückreisegepäck

Auch wenn Hendrik Meyer nach 20 Jahren in Prag in Tschechien angekommen ist – in seinem Herzen bleibt er Sachsen-Anhalter. "Ich bin heute in dieser großen Stadt, in der Metropole, in die Millionen Besucher aus der ganzen Welt kommen, um sie zu sehen. Aber tief innen bin ich immer noch der kleine Junge aus Heteborn, der auf dem Dorf aufgewachsen ist und der den Stallgeruch genauso gern hat wie den Geruch der Großstadt."

Blick über die Moldau auf die Prager Burg.
Hendrik Meyer möchte mit seiner Familie auch künftig in Prag bleiben. Bildrechte: picture alliance / dpa-Zentralbild | Stephan Schulz

Und nicht nur der Stall ist es, der Meyer und der Familie fehlt. Brötchen aus der Dorfbäckerei sind jedes Mal im Rückreise-Gepäck, außerdem heimisches Pflaumenmus – und Halberstädter Bockwürste. Es ist ein Gruß aus der alten Heimat in die neue Heimat Prag, die heute das Zuhause für Hendrik Meyer und die Familie bildet. Mittlerweile fühle er sich völlig integriert – 20 Jahre nach der EU-Osterweiterung schon mehr als deutscher Tscheche denn als tschechischer Deutscher, und das mitten in Europa.

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MDR (Danko Handrick, Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 01. Mai 2024 | 19:00 Uhr

2 Kommentare

Bruchi vor 1 Wochen

Der Durchschnittsprager bringt keine 2.200 € Brutto nach Hause. Auch in Tschechien gibt es Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Also wie hoch ist das NETTO Einkommen?

Dermbacher vor 1 Wochen

Das geht so lange gut, bis die Immobilienblase in Prag platzt!

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