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In ihrem Selbstverständnis war die Staatssicherheit "Schild und Schwert" der Partei. Doch am Ende der DDR begehrten Stasi-Offiziere gegen ihre Führung auf - u.a. wegen zu langsamer Reformen. Bildrechte: imago/Sven Lambert

Im Wende-Herbst 1989Stasi-Offizier packt aus: Revolte bei der Stasi

11. Januar 2020, 00:01 Uhr

Hunderttausende DDR-Bürger äußerten bei den Massenprotesten im Wende-Herbst 1989 laut ihren Unmut über die Zustände im Land. Was bislang aber noch nicht bekannt war: Selbst in den Reihen der Stasi, über all die Jahre als "Schild und Schwert der Partei" gefürchtet, war der Unmut so groß, dass schließlich selbst Stasi-Offiziere gegen ihre Führung demonstrierten.

von Andreas Wolter

Es war ein verregneter Wochentag im November 1989, erinnert sich ein ehemaliger Oberstleutnant der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit. An diesem Tag passierte etwas eigentlich Undenkbares: "Um den 20. November herum fand hier im Innenhof des HVA-Gebäudes eine spontane Demonstration von zirka 100, maximal 150 vor allem jüngeren Genossen der HVA statt", erzählt der ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der Spionageabteilung des MfS. Er war für "Quellen" (also V-Männer) in der Bundesrepublik zuständig - und möchte deshalb anonym bleiben.

Zum ersten Mal in der Geschichte des MfS gab es eine Kundgebung von Mitarbeitern, die sich gegen Führungskräfte, gegen diese zu schleppend laufenden Veränderungen richtete.

Einen Tag zuvor sei in einem Aushang im Haus 15, also dem Haupteingang zur HVA, auf einer Wandzeitung dazu aufgerufen worden: "Morgen Demo nach Dienstschluss um 16 Uhr!" Die Demonstranten aus den Reihen der Stasi forderten den Rücktritt der Führung - ein bis dahin unerhörter Vorgang! Sie wünschen sich auch gesellschaftliche Veränderungen, "mehr Perestroika" wie in der Sowjetunion unter Gorbatschow, erinnert sich der ehemalige Oberstleutnant.

Auch die Stasi unzufrieden

Ein ehemaliger Oberstleutnant der Stasi erzählt dem MDR-Reporter Andreas Wolter vom Protest seiner Kollegen im Wende-Herbst 1989. Der Mann möchte unerkannt bleiben. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im Ministerium für Staatssicherheit, als "Schild und Schwert der Partei" berüchtigt, rumorte es dem Zeitzeugen zufolge schon seit längerem: "Die Mehrheit wartete eigentlich darauf, dass Honecker und Mielke endlich abtreten", beschreibt der Oberstleutnant des MfS die Monate vor der Wende. "Wir wussten, es muss etwas passieren", erzählt er. Damit hegten zumindest manche MfS-Mitarbeiter dieselben Erwartungen wie viele "normale" DDR-Bürger.

Deren Stimmungen sind in den zahlreichen Berichten festgehalten, die MfS-Mitarbeiter für das Politbüro verfassten. Seit dem 17. Juni 1953, dem Volksaufstand in der DDR, waren alle Dienststellen der Staatssicherheit dazu verpflichtet, die Staatsführung über die Stimmungen im Volk regelmäßig zu informieren. Dem kam auch die Hauptabteilung VIII (Beobachtung, Ermittlung) der Bezirksverwaltung Berlin des MfS im Juli 1989 nach: "Die Stimmung in der Hauptstadt der DDR ist von tiefer Enttäuschung, Verbitterung und Sorge geprägt", steht in einem Bericht. Im November 1989, als die Friedliche Revolution bereits in vollem Gange war, beklagen sich Mitarbeiter derselben Abteilung darüber, dass man in der Vergangenheit auf viele Probleme, Mängel und Misswirtschaft aufmerksam gemacht und sogar Verbesserungsvorschläge unterbreitet habe - doch es sei nichts passiert.

Reformen den Stasi-Offizieren zu "schleppend"

"Die notwendigen Veränderungen wurden von uns genauso herbeigesehnt wie von vielen anderen", erinnert sich der Oberstleutnant der MfS-Spionageabteilung. "Doch das Tempo der Veränderung war schleppend. Die Ereignisse draußen überschlugen sich, wir warteten ab." Das habe schließlich dazu geführt, dass Offiziere der Staatssicherheit gegen ihre eigene Führung demonstrierten.

Die Atmosphäre auf der Kundgebung war schon seltsam. Wir waren ein militärisches Organ, waren Offiziere und befanden uns auf einem militärischen, höchst sensiblen Bereich.

Rebellion und Aufruhr im Zentrum des DDR-Machtapparats, auf dem Innenhof der Berliner Stasi-Zentrale – das zollt auch dem Geheimdienstexperten Prof. Helmut Müller-Enbergs Respekt ab: "Das Verhalten innerhalb eines militärischen Objekts, sich Befehlen zu verweigern, könnte auch als Meuterei, als Desertion definiert werden können - für Militärs undenkbar."

Stasi-Revolte weitet sich aus

Zwei Demos von Stasi-Offizieren fanden auf dem Areal der MfS-Zentrale in der Berliner Normannenstraße statt. Bildrechte: imago images/Schöning

Bewirkt hat die Demonstration an jenem verregneten November-Nachmittag nicht viel. "Aber sie übte erheblichen Einfluss und Druck auf andere Diensteinheiten aus, wo ähnliche Tendenzen deutlich wurden", sagt der ehemalige Oberstleutnant der HVA. Und das führte zu einer weiteren, deutlich größeren Protestaktion in der Stasi-Zentrale – diesmal direkt vor dem Hauptgebäude des Ministeriums für Staatssicherheit. Ein anderer, damals mit 26 Jahren noch junger Hauptamtlicher Mitarbeiter aus der Hauptabteilung II des MfS (Spionageabwehr) erinnert sich: "Ich habe die Demonstration aus dem Gebäude heraus beobachtet. Es müssen um die 1.000 Kollegen gewesen sein. Der Hof war voll."

Alte Genossen würden am liebsten schießen

Als er durch die Flure gelaufen sei, habe er das Entsetzen der alten Genossen gehört. "Von Konterrevolution in den eigenen Reihen war da die Rede. Einige sprachen sogar davon, man sollte die da unten alle erschießen!" Doch dazu ist es nicht gekommen. "Ein Militär demonstriert auf militärischem Gelände. Daran kann man gut ablesen, dass die Herbstrevolution selbst den härtesten, konservativsten, stabilsten Teil  der Institution erreicht hatte", betont Historiker und Geheimdienstexperte Müller-Enbergs und fügt hinzu: "Die Generalität hatte keine Soldaten mehr. Die Generalität hatte keine Mehrheit mehr."

Stattdessen wurde die Unzufriedenheit unter den Mitarbeitern des inzwischen in Amt für Nationale Sicherheit umbenannten militärischen Organs immer größer. Am 5. Dezember 1989 beklagt das Sekretariat des Ministers in einer Information zur Lage: Man habe den "Fahneneid im Namen von Verbrechern geleistet", sei von "Feinden des Volkes missbraucht" worden. Viele Mitarbeiter hätten Angst, "für etwas gehängt zu werden, was sie nicht getan haben".

Stasi-Mitarbeiter wollen "Erneuerungsprozess" mittragen

Jahrzehntelang sicherten Stasi-Offiziere als Teil des Repressionsapparats die Macht der SED - im Wendeherbst 1989 wollten sie plötzlich das System reformieren, sahen sich als Opfer falscher Politik der Führungsriege - das belegen interne Dokumente wie dieses. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ein weiteres Dokument hält zudem fest, wie ein Teil der Stasi-Offiziere über die Ereignisse dachten: Auch sie würden den "Erneuerungsprozess" unterstützen, heißt es darin, hätten aber gleichzeitig das Problem, dass sie "pauschal für Handlungen/Verbrechen der füheren Führung und falsche Sicherheitspolitik" verantwortlich gemacht würden. Diejenigen, die bis vor kurzem noch mit aller Gewalt und mit allen Mitteln das Regime verteidigten, wollten dieses System nun verändern.

In den zurückgebliebenen Akten der Staatssicherheit finden sich übrigens keine Hinweise auf diese Demonstrationen von MfS-Mitarbeitern gegen ihre Führung. Die Dokumentationspflicht wurde offenbar auch nicht mehr befehlsgemäß und akribisch ausgeführt, wie noch kurz zuvor. Auf dem Gelände der einstigen Stasi-Zentrale in der Normannenstraße in Berlin können sich heute Besucher über Staatssicherheit und friedliche Revolution informieren. Eine Geschichte, der jetzt wohl ein Kapitel hinzugefügt werden muss.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 12. Januar 2020 | 22:00 Uhr