In diesem Dossier:
- Religion und Staat: Die Kirchen und die DDR
- Kirche im Sozialismus
- Operation "Wüstensand": Isolierungslager für unliebsame Bürger
- Kommentar: Christen in der DDR
- "Schwerter zu Pflugscharen" – die Friedensaktion von Wittenberg
- Friedrich Schorlemmer und "Schwerter zu Pflugscharen"
- Lexikon - Friedensbewegung in der DDR
Schwerter zu PflugscharenDer Friedens-Schmied von Wittenberg – eine vergessene Symbolfigur
Das Bild des Schmiedes Stefan Nau, der in aller Öffentlichkeit ein Schwert umschmiedete, ging 1983 um die Welt. Es war die spektakulärste Aktion der DDR-Friedensbewegung. Für Nau hatte sie aber drastische Folgen ...
Es ist am 24. September 1983, als der Kunstschmied Stefan Nau auf dem Wittenberger Lutherhof vor mehr als 2.000 enthusiastischen Zuschauern ein Schwert zu einer Pflugschar umschmiedet. Währenddessen liest Friedrich Schorlemmer, damals Prediger an der Schlosskirche in Wittenberg, biblische und politische Texte vor.
Die Aktion findet während eines evangelischen Kirchentages statt, zu dem zahlreiche Vertreter aus Westdeutschland gekommen waren – unter anderem der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, aber auch das Westfernsehen und zahlreiche Print-Journalisten aus der Bundesrepublik.
Die Aktion wird dadurch schnell publik, und das Bild, das den damals 38-Jährigen Nau bei der Schmiedeaktion zeigt, geht um die Welt. Es wird zu einem Symbol der Friedensbewegung in Ost und West. Doch um Naus persönlichen Frieden ist es geschehen. Er muss für die spektakuläre Aktion einen hohen Preis zahlen.
Friedensaktion in der DDR "illegal"
Stefan Nau ist selbständiger Handwerker und betreibt in Wittenberg eine kleine Schmiedewerkstatt. In den Monaten nach der "illegalen" Aktion auf dem Lutherhof werden die Aufträge immer weniger und schließlich gibt es gar keine mehr. Nau steht vor dem wirtschaftlichen Ruin. Er vermutet, dass die Staatssicherheit dabei ihre Finger im Spiel hat. Und tatsächlich ist das ziemlich wahrscheinlich, auch wenn Nau keine Beweise dafür hat.
In dieser für ihn ausweglosen Situation entschließt sich Stefan Nau, einen Ausreiseantrag zu stellen. Er will mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in die Bundesrepublik übersiedeln und einen neuen Anfang wagen. In der DDR sieht er keine Perspektive mehr. "Aber damit fing das Spießrutenlaufen erst richtig an", erinnert sich der Kunsthandwerker. "Ich stand jetzt zwischen der Staatssicherheit und der Friedensbewegung."
Schmied aus dem Friedenskreis ausgeschlossen
Die "Abteilung Inneres" beim Rat des Kreises nimmt seinen Antrag entgegen und vertröstet ihn – es könnten Jahre bis zur Ausreisebewilligung vergehen. Nau muss seine Schmiedewerkstatt schließen und wird Anlagenfahrer im Chemiekombinat Piesteritz. Aus dem Wittenberger Friedenskreis schließt man ihn aus. Sein Wunsch fortzugehen wird dort als Verrat empfunden.
"Friedrich Schorlemmer versuchte, mich immer wieder zu überzeugen, in der DDR zu bleiben und meinen Antrag zurückzuziehen. Aber ich wollte nicht mehr." Nau wird unterstellt, dass er die Schmiedeaktion einzig mit der Absicht durchgeführt habe, um seine immer schon geplante Ausreise aus der DDR voranzutreiben. Von der Symbolfigur steigt er zum Verräter ab.
Übersiedlung in den Westen
Im Oktober 1985 darf Stefan Nau die DDR verlassen. Er siedelt sich mit seiner Familie zunächst im schwäbischen Nagold an, später lebt er in einer Kleinstadt in Hessen. In den ersten Jahren nach seiner Übersiedlung kann er noch als Kunstschmied arbeiten, dann ist es damit vorbei – die Arbeit bringt nicht mehr genug ein.
Als Schorlemmer 1993 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommt, trifft Nau einstige Mitstreiter aus der Friedensbewegung der DDR. "Aber außer 'Guten Tag' und 'Auf Wiedersehen' war da nichts", erinnert sich der Schmied 2001 im MDR-Fernsehen. Auch die Distanz zu Friedrich Schorlemmer übrwindet er nicht: "Wir haben uns nichts mehr zu sagen." 2011 stirbt der "Schmied von Wittenberg", von der Öffentlichkeit praktisch unbemerkt, an seinem letzten Wohnort in Hessen.
Friedensfest 40 Jahre danach
Zur Erinnerung an die Schmiedeaktion von 1983 organisieren mehrere kirchliche Träger und die Stadt Wittenberg am Abend des 21. September 2023 (Internationaler Friedenstag) ein Friedensfest mit Zeitzeugenberichten, einer Ausstellung, Bühnenprogramm und Livemusik. Hier geht es zum ausführlichen Programm.
Dieses Thema im Programm:MDR S-ANHALT | MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 21. September 2023 | 19:00 Uhr
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- Kirche im Sozialismus
- Operation "Wüstensand": Isolierungslager für unliebsame Bürger
- Kommentar: Christen in der DDR
- "Schwerter zu Pflugscharen" – die Friedensaktion von Wittenberg
- Friedrich Schorlemmer und "Schwerter zu Pflugscharen"
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