In diesem Dossier:
Protest in SchwarzMein Leben als "Grufti"
Stasi-Chef Erich Mielke nannte sie mangels Englischkenntnissen "Guffits". Aber er war nicht der einzige, der Verständnisprobleme hatte. Erfahrungsbericht eines DDR-Gruftis.
Inhalt des Artikels:
1987 besaß ich genau eine schwarze Hose. Und ich hütete sie wie ein Heiligtum, zwischen den Kunstfaser-Pullis und Cord-Hosen. Dieses Stück Stoff war für mich nicht nur ein in der DDR schwer zu ergatternder Modeartikel - es war ein Zeichen! Es war Protest und Anderssein. Es war schwarz. Und das allein war schon Protest genug.
Ja, ich war in den 80er-Jahren das, was man als Grufti bezeichnet hat. Stasi-Chef Erich Mielke hat das mangels Vorstellungskraft irgendwie falsch verstanden und nannte uns "Guffits". Aber eigentlich hat uns auch sonst niemand verstanden. Und ich mich selbst am allerwenigsten. Ich wusste nur: Ich wollte anders sein.
Kreuze verboten
Das Zubehör war simpel - und doch so schwer zu bekommen: schwarze Kleidung von oben bis unten, gern dekoriert mit Ketten, Kreuzen oder Anstecknadeln. Dazu toupierte Haare und dunkel umrandete Augen. Ein Kinderspiel. Aber nicht in der DDR! Natürlich gab es dann und wann schwarze Hosen und Blusen in der "Jugendmode", doch die waren meist nicht lässig genug. Kleidung aus dem "Exquisit" konnten sich nur die wenigsten leisten - und sie sah auch viel zu ordentlich und damenhaft aus. Deshalb taten es die meisten von uns so wie ich: Sie hegten und pflegten ihre mühsam zusammengestellte schwarze "Uniform", wuschen und trugen sie oft, nähten und flickten sie dann und wann.
Und auch wenn man in seiner Trauerkluft im Grunde jedem suspekt war, sie war zumindest geduldet. Anders war das mit dem meist religiösen Schmuck: Das Tragen sichtbarer Kreuze in der Schule beispielsweise war verboten. Da hatte ich es mit meinem etwa zehn Zentimeter großen Kreuzanhänger, den ich stolz von einer Tante "geerbt" hatte, recht schwer. Unter dem T-Shirt machte er keinen Sinn - man wollte ihn ja zeigen und damit etwas aussagen (mir ist im Moment leider entfallen, was genau das war). Also wurde der Schmuck hauptsächlich in der Freizeit zur Schau getragen - Sonntagnachmittag in der Disko, auf dem Rummel oder beim Treff im Park. Nur die ganz "Wilden" trauten sich damit in die Schule. Die stadtbekannten "Ober-Grufties". Aber wild, nein, das war ich nicht.
Nur eine Phase?
Meinen Eltern erging es in dieser Zeit wie den meisten anderen Eltern: Sie haben es gehasst. Plötzlich war das Nesthäkchen verschlossen und düster, hörte komische Schrammelmusik und war ständig mit den falschen Leuten unterwegs. Gar nicht konform. Und so völlig unverständlich. Verbannt waren die rosa Hosen aus Babybettlaken, die pinkfarbenen T-Shirts und gelben Sommerkleider. Die einzige Hoffnung der Eltern in dieser Zeit: Ach, das ist bestimmt nur eine Phase, das geht vorüber!
Einen herben Rückschlag erlitt diese Theorie, als mein damaliger Freund eines Tages unangekündigt vor der Tür stand. Ich hatte ihn extra gebeten, mich nicht zu Hause abzuholen. Ein Treff irgendwo anders wäre besser gewesen. Schließlich wollte ich meinem Vater den Anfall und meiner Mutter die Schmach vor den Nachbarn ersparen. Doch dann stand er vor der Tür - und mein Vater öffnete sie. Vor ihm stand ein junger Mann mit wuschligen Haaren, einer groben Tweedjacke und einer schwarzen Hose - um den Hals eine metallene Klospülungskette, an der ein riesiges gusseisernes Kreuz baumelte. Selbiges hatte bis vor ein paar Monaten noch den Zaun eines Friedhofs geziert.
Selten hat der Mund meines Vaters so lange offen gestanden wie in diesem Moment. Und selten war ich so schnell und grußlos aus der Wohnungstür geflüchtet wie an diesem Nachmittag. Das Verhör samt Donnerwetter folgte am Abend.
Mit Weltschmerz beladen
Dabei konnten meine Eltern noch zufrieden sein. Ich war ja quasi ein "Grufti light". Ich legte mich mit niemandem an, toupierte meine Haare nicht deckenhoch, malte meine Zimmerwände nicht schwarz an und schlief auch nicht in einem Sarg, wie man von ganz eingefleischten Gleichgesinnten munkelte. Meine beste Freundin trug schwarze Stiefeletten mit Totenkopfschnallen, die bei jedem Schritt klimperten. So etwas hätte ich mich nie getraut. Ich wollte nur gegen den Strom schwimmen. Ein ganz kleines bisschen wenigstens. Ich wollte für den Rest meines Lebens schwarz tragen und später Robert Smith, den Sänger meiner Lieblingsband "The Cure", heiraten. Das Bleichgesicht war ein Idol für Tausende - cool, depressiv, beladen mit Weltschmerz - unverstanden. So wollten wir auch sein.
Aber warum um alles in der Welt will jemand freiwillig so sein? Erklären kann ich es heute nicht mehr so genau. Doch es war klar: Die Gruftis waren ein einziger modischer Protest. Gegen den Staat, gegen die Gleichförmigkeit, gegen das verordnete Jugendbild. Man wollte provozieren, auffallen und vielleicht sogar zum Nachdenken anregen. Mit Sicherheit aber wollte man eins: Nicht im Einheitsbrei des real existierenden Sozialismus untergehen.
Nur wenige halten diese Linie bis heute durch. Aus den meisten meiner Mitstreiter wurden brave Familienväter, Karrierefrauen und lebenslustige Mitglieder der Gesellschaft. Einige tragen noch immer schwarze Kleidung, dezenter und mit Farben gemischt. Heute komme ich mir schon verrucht vor, wenn ich nur ein schwarzes Jackett anziehe. Aber manchmal, wenn ich einen ganz wilden Tag habe, krame ich meinen kleinen Kreuzanhänger aus dem Schmuckkästchen, lege die alten Kassetten in den Recorder - und hoffe, dass es keiner bemerkt.
Dieser Artikel erschien erstmals 2010.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR KULTUR SPEZIAL | 09. Juni 2019 | 20:30 Uhr