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DDR-Filmklassiker "Schwester Agnes" wurde in Waltersdorf gedreht – daran erinnert heute ein Hinweisschild. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Gemeindeschwester auf der Schwalbe"Schwester Agnes": In der Lausitz bis heute Kult

07. März 2023, 05:00 Uhr

Durch Waltersdorf, einen kleinen Ort in der Oberlausitz unweit von Zittau, wehte im Sommer 1974 ein Hauch von Hollywood. Plötzlich stand Waltersdorf im Rampenlicht – für "Schwester Agnes". Die Oberlausitzer erinnern sich gern an die Zeit, als die DEFA-Filmleute ihren Ort in Beschlag nahmen – und an das alte "Gemeindeschwester-Feeling". Dass es hin und wieder aufkommt, dafür sorgt heute ein junger Altenpfleger auf der Schwalbe.

Er ist immer mit der Schwalbe unterwegs: Justin Birnstein, 28 Jahre jung, Altenpfleger in Waltersdorf, einem Dorf im Zittauer Gebirge, das Filmgeschichte schrieb. Und die ist offenbar noch sehr lebendig: "Wenn ich mal in die Apotheke gegangen bin, um ein Medikament für meine Patienten abzuholen, ist das schon öfters passiert: Auf dem Zettel stand dann 'Für Schwester Agnes'." Das machte ihn neugierig. Er begann zu recherchieren.

Justin Birnstein, 28 Jahre jung, Altenpfleger in Waltersdorf, einem Dorf im Zittauer Gebirge, das Filmgeschichte schrieb. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Mit der Schwalbe unterwegs auf den Spuren von Schwester Agnes

Fast ein halbes Jahrhundert ist es nun her – eine Crew der DEFA kommt damals in die Oberlausitz, um einen Film zu drehen: "Schwester Agnes". In der Hauptrolle: Irmgard Agnes Friederike Krause, besser bekannt als Agnes Kraus. Sie spielt eine engagierte Gemeindeschwester mit Witz und Berliner Schnauze. Immer im Einsatz auf einer tundra-grauen Schwalbe erobert sie die Herzen eines Millionenpublikums.

Dass aus "Schwester Agnes" ein Filmklassiker werden würde, der Fernsehsendern bis heute gute Einschaltquoten beschert, ahnt damals niemand. So wie die Kultschwester im Film fährt inzwischen Justin Birnstein auf seiner Dienstschwalbe von Haus zu Haus. Was mal als Werbegag gedacht war, wurde ein echter "Türöffner". Denn viele Waltersdorfer, die er unterstützt, haben die Dreharbeiten miterlebt. So wie Karin Szalai. Dank Justins Hilfe kann sie ihren pflegebedürftigen Mann noch zuhause betreuen und die Beschwernisse beim Plausch über die alten Zeiten kurz vergessen.

Wenn die Leute erzählen, vergessen sie mal kurz ihr Leid, ihre Negativgeschichten, die sie so begleiten, und lächeln dabei. Das ist das, was mich interessiert, das was ich auslöse mit der Idee, auf der Schwalbe durch Waltersdorf zu fahren.

Justin Birnstein, Altenpfleger

Idyllisch gelegen: Blick auf Waltersdorf im Zittauer Gebirge Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Perfekte Filmkulisse im Zittauer Gebirge

Die historischen Umgebindehäuser verleihen dem Dorf besonderen Charme. Malerisch gelegen inmitten des Zittauer Gebirges, ist es die perfekte Filmkulisse. Im August 1974 wird hier in der Oberlausitz vier Wochen lang gedreht. Bis zu 200 DEFA-Leute sind täglich vor Ort. Waltersdorf wird im Film zur Gemeinde Krummbach. Aus dem heutigen "Quirlehäusle" – einem mehr als 170 Jahre alten Oberlausitzer Umgebindehaus – wird im Film der Konsum, in dem auch Schwester Agnes einkaufen geht.

Im benachbarten Jonsdorf steht das Haus, in dem sie damals wohnt. Nicht nur im Film, sondern auch in der Realität. Die Schauspielerin hat sich anstelle eines komfortablen Hotelzimmers eine ganz normale Unterkunft gewünscht. So lebt sie für einen Monat in WG mit Familie Steffensen. Sohn Jens, damals zehn Jahre alt, erinnert sich an Agnes Kraus als eine Frau mit ausgeprägter Tierliebe: "Sobald eine Katze auf sie zukam, wurden die Dreharbeiten unterbrochen."

Walter Richter-Reinick als Karl Willmann und Agnes Kraus als Gemeindeschwester Agnes Feurig beim Stelldichein Bildrechte: MDR/Deutsches Rundfunkarchiv/ Klaus Zähler

Schwester Agnes konnte gar nicht Schwalbe fahren!

Die Dreharbeiten drohen auch anderweitig ins Stocken zu geraten: Denn ausgerechnet Schwalbe fahren gehört nicht zu Agnes' Stärken. So bekommt Horst Helle, damals Abschnittsbevollmächtigter, kurz ABV, von Regisseur Otto Holub einen Spezialauftrag. Er soll der Hauptdarstellerin Schwalbe fahren beibringen. Keine leichte Mission, da es schon mit dem Fahrrad fahren nicht klappt. "Die Frau hatte einfach keinen Gleichgewichtssinn", staunt Horst Helle noch heute.

Ich habe immer gesagt: 'Ruhig bleiben, nicht aufregen, dann klappt das schon.' Aber es klappte nicht und der Müller Klaus, unser Schmiedemeister, der baute dann ein Gestell mit Rädern, wo das Moped draufgestellt wurde und die Schwester Agnes konnte sich draufsetzen und wurde so durch Waltersdorf geschoben oder gezogen.

Horst Helle, damals Abschnittsbevollmächtigter in Waltersdorf

Justin Birnstein trifft Agnes' Fahrtrainer Horst Helle. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

ABV als Stuntman für Schwester Agnes

Um Agnes' rasantere Einsätze auf der Schwalbe zu doubeln, muss schließlich Helles ABV-Kollege Joachim Seibt als Stuntman ran:

Man hat mich gefragt: 'Bist Du bereit? Würdest Du das machen?' Und eh ich mich versah, hatte ich Strumpfhosen an und eine blonde Perücke auf.

Joachim Seibt, Stuntman auf der Schwalbe

Als Agnes-Double bekommt Joachim Seibt damals 40 DDR-Mark pro Tag, einfache Komparsen 20.

Dass man die authentischen Drehorte heute noch besichtigen kann, ist auch den Waltersdorfern selbst zu verdanken: Peter Kuntze, der nach der Wende mit seiner Frau Katrin und deren Bruder das "Quirlehäusle" restauriert und als Hotel neu eröffnet, erzählt: "Die Leute hatten hier zu DDR-Zeiten wenig Geld und kaum Baumaterialien. Sie haben alles selber gemacht an ihren Häuschen, ohne viel zu verändern. So gibt es heute hier noch 200 wunderschöne, original erhaltene Umgebindehäuser." Der Aufwand nach der Wende war allerdings beträchtlich, wie Kuntze berichtet. Allein mit der Restaurierung des "Quirlehäusle" waren 35 Handwerksfirmen aus der Region beschäftigt.

Agnes Kraus als Gemeindeschwester Agnes Feurig mit Iris Bohnau in der Rolle der Katja Lehnert, einer jungen Mutter, die verzweifelt eine Wohnung sucht. Bildrechte: MDR/Deutsches Rundfunkarchiv/ Klaus Zähler

Erinnerungen an DEFA-Dreharbeiten in Waltersdorf

Über all die Stories rund um die Dreharbeiten lachen die alten Waltersdorfer heute noch herzlich, wenn sie sich mal im "Quirlehäusle" zum Filmabend versammeln. Das halbe Dorf ist damals auf den Beinen für "Schwester Agnes". Die kümmert sich nicht nur um Blutdruck und Platzwunden, sondern hilft auch sonst, wo sie kann – und treibt als Gemeinderätin den Bürgermeister regelmäßig in den Wahn: "Ick globe, du fühlst dich hier alleen als Staatsapparat", wirft sie ihm vor und ertrotzt Wohnraum für eine junge Mutter, die drauf und dran ist, ihr zweites Kind abzutreiben, weil sie noch drei Jahre auf eine ordentliche Bleibe warten soll. Im Film gibt es ein Happy End und alle sind versöhnt miteinander.

Waltersdorf wird im Film zur Gemeinde Krummbach. Im heutigen "Quirlehäusle" versammeln sich Mitwirkende von einst zum Filmabend. Dazu gehören auch Agnes-Double Joachim Seibt (r.) sowie Peter (2.v.l.) und Katrin (2.v.r.) vom gleichnamigen Schlagerduo. Sie haben das alte Umgebindehaus nach der Wende restauriert. Birgit (l.) war übrigens die letzte echte Gemeindeschwester. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Gemeindeschwester heute – kein Happy End

Bis vor zwei Jahren gab es tatsächlich noch eine Gemeindeschwester in Waltersdorf. Die letzte hieß Thomas. Der gelernte Rettungsassistent Thomas Giebel kam montags und mittwochs zum Hausbesuch. Liebevoll wurde er "Schwester Thomas" genannt. Er musste den Job aufgeben. Und auch der Hausarzt schloss seine Praxis inzwischen aus gesundheitlichen Gründen. Karin Szalai fasst die Versorgungs- und Gefühlslage so zusammen: "Die Bevölkerung auf dem Dorf, die wird vollkommen ignoriert. Die Leute brauchen keinen Arzt mehr, die brauchen keine Schwester mehr. Die können sich ja von irgendjemanden in die Stadt, nach Dresden fahren lassen. Also ich finde das schrecklich. Und deshalb bewundere ich das, wenn junge Leute sich bereit erklären, von Haus zu Haus zu fahren und die alten Leute zu betreuen."

Gemeindeschwestern in der DDR

Gemeindeschwestern waren typisch für das Gesundheitswesen der DDR auf dem Land. Seit Anfang der 1950er-Jahre halfen sie, Patienten in entlegenen Gebieten zu versorgen. Nötig ist das auch, weil es schon damals einen akuten Ärztemangel gibt – in der frühen DDR durch die Abwanderung vieler Mediziner in den Westen bedingt, der erst durch den Mauerbau 1961 unterbunden wird. Organisatorisch waren sie an Landambulatorien und staatliche Praxen angebunden, arbeiteten aber in der Praxis weitgehend selbstständig. Nach der Wiedervereinigung wurde das System der Gemeindeschwestern in den neuen Bundesländern abgeschafft. Seit 2006 gibt es vereinzelt Initiativen und Pilotprojekte, die das Konzept der Gemeindeschwestern aus DDR-Zeiten wieder aufgreifen, so in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen.

Als Altenpfleger darf Justin Birnstein "nur" Menschen mit Pflegestufe helfen. Eine echte Gemeindeschwester wie Agnes ist er also genau genommen nicht. Er will seinen Job auch in Zukunft in Waltersdorf ausüben. Fast so wie Schwester Agnes. Deren Legende lebt inzwischen auch im Internet. Dank einer jungen Frau namens "Oldtimerblondie", die wie Justin als Schwalbe-Fan startete und dann Agnes entdeckte, denn als Angestellte in der Verwaltung eines Pflegeheims ist sie auch irgendwie vom Fach. Agnes sieht sie als "eine sehr witzige und auch provokante Person". Sie verbindet mit ihr "dieses Gemeindeschwester-Feeling", als noch Zeit für Hausbesuche und vor allem zum Reden war.

"Schwester Agnes" lebt inzwischen weiter auch via Internet. Dank einer jungen Frau namens "Oldtimerblondie". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Redaktionelle Bearbeitung: Katrin Schlenstedt

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo Du lebst | 07. März 2023 | 21:00 Uhr