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Zwei Mitarbeiter des Automobilwerkes Eisenach im Karosseriebau. Die Autos, die ab 1945 gefertigt wurden, waren Teil der Reparationszahlung. Das Automobilwerk Eisenach lieferte sie in Holzkisten in die Sowjetunion. Bildrechte: AWE Eisenach

Mitteldeutschland 1945Neustart der Pkw-Produktion: Wie die Eisenacher die Sowjets austricksten

14. Januar 2021, 17:23 Uhr

Überall Schutt und Asche - die Spuren des Krieges sind in Eisenach im September 1945 noch deutlich zu sehen. Mehr als die Hälfte des Automobilwerks liegt in Trümmern. Dennoch läuft nur vier Monate nach Kriegsende die Produktion der schwarz glänzenden Pkws mit roten Sitzen wieder an - und das obwohl das Werk eigentlich im Rahmen der Reparationsleistungen demontiert und in die Sowjetunion gebracht werden sollte! Mit einer Art Wette mit Marschall Schukow können die Eisenacher ihr Werk aber retten.

von Laura Meinfelder

Im Jahr 1945 gleicht die Industriestadt Eisenach einer Trümmerlandschaft. Auch die Produktionshallen des Automobilwerkes sind zu einem Großteil zerstört. Alliierte Bomberstaffeln haben das traditionsreiche Unternehmen zwischen 1944 und 1945 mehrfach angegriffen. Immerhin aber wurden die Anlagen und Maschinen für die Pkw-Produktion bereits lange vorher abgebaut und in einem nahegelegen Bergwerk in Sicherheit gebracht. Mehr als 1.900 eingelagerte Maschinen warten in den Schächten auf das Ende des Krieges.

Autohersteller sattelt auf Kochtöpfe um

In den Kriegsjahren war das Automobilwerk Eisenach ein Rüstungsbetrieb. Statt schnittigen Autos wurden Flugzeugteile hergestellt. Im April 1945 besetzen die Amerikaner die Stadt Eisenach. Im Juli übernimmt die Rote Armee das Kommando. Durch notdürftige Reparaturen der Hallen und zügige Aufräumarbeiten kann die Produktion im Automobilwerk schnell wieder starten - doch von Autos ist zunächst keine Rede! In Eisenach müssen mehr 15.000 Flüchtlinge und Umsiedler mit einem neuen Hausstand versorgt werden. Das Automobilwerk passt sich an die Notsituation der Menschen an und stellt bereits im Mai 1945 Haushaltsgegenstände wie Töpfe, Kohleeimer oder Schubkarren her.

Wie halten wir die Demontage auf?

Mit dem Verkauf der Haushaltsgegenstände finanziert das Automobilwerk Eisenach die Aufräumarbeiten. Je schneller die Trümmer beseitigt sind, desto schneller können die unversehrten Maschinen aus dem Versteck im Bergwerk an ihren alten Platz zurückkehren. Es gibt nur einen Haken: Das Werk soll eigentlich im Rahmen von Reparationszahlungen demontiert und in die Sowjetunion gebracht werden. Damit würde das Automobilwerk Eisenach das Schicksal seines Mitbewerbers Audi in Sachsen teilen.

Doch die Eisenacher wollen sich damit nicht einfach so abfinden - der rasche Neubeginn nach Kriegsende gibt ihnen Mut. So viel Mut, dass die Werksleitung unter Alfred Schmarje zur sowjetischen Militäradministration nach Berlin-Karlshorst fährt. Im Gepäck hat sie eine findige Idee, um der drohenden Demontage des Automobilwerkes zu entgehen - und ein Geschenk für den wichtigsten Mann in Karlshorst.

Man hat über alles hinweg geguckt, um das Ziel des Aufbaus zu erreichen und das Werk vor der Demontage zu schützen. Schließlich hat die ganze Region davon gelebt!

Marschall Schukow mit roten Sitzen verführt

Um das Automobilwerk Eisenach vor der Demontage zu bewahren, will die Leitung des Automobilwerkes Eisenach nichts unversucht lassen und besucht daher keinen Geringeren als Marschall Schukow - den Verteidiger Moskaus, Eroberer Berlins und obersten Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland. Und natürlich erscheint der Besuch nicht mit leeren Händen, sondern bringt dem hochverehrten Helden der Sowjetunion einen neugefertigten, schwarz glänzenden BMW 321 mit roten Sitzen mit. Ein Geschenk mit der Bedeutung: Wir sind bereit und wir können für euch produzieren.

Matthias Doht ist Geschäftsführer der Stiftung Automobile Welt Eisenach. Bildrechte: AWE

Dem sowjetischen Marschall gefällt die Limousine und so willigt er ein, die Demontage des Automobilwerkes Eisenach zu stoppen - wenn die Eisenacher eine Bedingung erfüllen! Das Automobilwerk müsse innerhalb einer Woche fünf weitere Autos produzieren. Eine ungeheure Chance für die ganze Region, die von den Arbeitsplätzen und dem Umsatz des Werkes lebt. Die Werksleitung und die Arbeiter sind motivierter denn je, denn es gibt nun eine Chance für Eisenach, die sie unbedingt wahrnehmen wollen.

Der Wille, der unsagbare Wille des Aufbaus war da, um wieder eine zivile Produktion zu schaffen und das, was man ursprünglich mal in Eisenach gemacht hat, nämlich Autos zu bauen und keine Rüstungsgegenstände.

Matthias Doht

"Ein Wunder der Geschichte"

An der Manneskraft fehlt es in Eisenach nicht. Doch wo sollen die dringend benötigten Autoteile herkommen? Der entscheidende Großteil der Zulieferer sitzt in den westlichen Besatzungszonen und kann nicht aushelfen. Also bittet man alle umliegenden Vertragswerkstätten in der Sowjetischen Besatzungszone, die passenden Teile bereitzustellen. Tag und Nacht arbeiten die Helfer, um die fünf Autos produzieren zu können. Matthias Doht, Leiter des Automobilmuseums Eisenach, ist beeindruckt von der Leistung der Eisenacher im Jahr 1945:

Ein Mitarbeiter bei der Arbeit am Heck eines EMW. Die Arbeitsbedigungen in der Nachkriegszeit beschreibt Matthias Doht, Leiter des Automobilmuseums Eisenach, als "primitiv und katastrophal". Bildrechte: AWE Eisenach

Das war eine heroische Leistung. Es gab keinen regelmäßigen Strom, keine Kohle zum Heizen und es war bitterkalt. Und trotzdem sind die Leute gekommen und haben versucht, die Maschinen wieder in Gang zu setzen.

Matthias Doht

Trotz der primitiven Produktionsbedingungen schaffen die Werksmitarbeiter es binnen einer Woche, aus Restteilen fünf voll funktionsfähige Autos zu fertigen und Marschall Schukow zu präsentieren. Begeistert von der Leistung, willigt Schukow dem kühnen Vorschlag der Leitung des Automobilwerkes ein: Die Autos würden weiterhin in Eisenach gefertigt werden, aber anschließend in Holzkisten in die Sowjetunion als Reparationsleistung transportiert.

Auf dem Bild ist das Modell EMW 327.2 zu sehen, welches im Jahr 1937 bis 1941 produziert wurde. Nach dem Krieg wurde die Fertigung des Vorkriegs-327 als EMW 327 fast unverändert wieder aufgenommen. EMW steht für Eisenacher Motorenwerk. Bildrechte: AWE Eisenach

Marschall Shukow erlässt am 13. Oktober den Befehl Nr. 93, der die Wiederaufnahme der Produktion anordnet. Die Rettung des Automobilwerkes Eisenach ist damit besiegelt. Noch im Oktober werden zehn Autos und 23 Motorräder gefertigt und ausgeliefert. Nach der offiziellen Wiederaufnahme der Produktion fertigt das Automobilwerk auch die dringend benötigten Ersatzteile selbst. So können zwischen 1945 und dem Produktionsende 1950 fast 9.000 Autos des Modells BMW 321 gebaut werden.

Es war wie ein Wunder der Geschichte, dass das Werk nicht leer geräumt wurde. Die Maschinen wurden sogar wieder zurückgeholt. All das konnte man nur mit dem starken Willen eines Neubeginns schaffen.

Matthias Doht

Dem kühnen Vorschlag der Werksleitung und der Arbeiter des Automobilwerkes ist es zu verdanken, dass Eisenach mit Schwung in die Nachkriegszeit startete - und später mit der Produktion des berühmten Wartburg beginnen konnte.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR ZEITREISE | 03. Mai 2020 | 22:00 Uhr