6. Mai 1945Der letzte Kampf der Armee Wenck
Ende April 1945 soll die Armee des Generals Walther Wenck das eingekesselte Berlin befreien. Doch statt die blutjungen Soldaten sinnlos zu verheizen, führt Wenck seine Armee und tausende andere gerettete Soldaten am 6. Mai über die Elbe in US-Gefangenschaft.
Es muss irgendwann in den 1960er-Jahren gewesen sein. Bei einem Empfang des FDP-Urgesteins Thomas Dehler geht der damalige FDP-Bundestagsabgeordnete und frühere Wehrmachtsoldat Hans-Dietrich Genscher auf einen Mann zu, bei dem er sich aufrichtig für die Rettung seines Lebens und das seiner früheren Kameraden bedankt. Der Mann, dem der spätere Bundesaußenminister dabei die Hand schüttelt, ist der ehemalige General der Panzertruppe Walther Wenck.
Masse sind blutjunge Burschen
Persönlich begegnet sind sich Genscher und Wenck bis dahin noch nie. Allerdings sind ihre Schicksale in den letzten Kriegstagen 1945 eng miteinander verknüpft. Wenck, Jahrgang 1900, gebürtiger Wittenberger, übernimmt Anfang April 1945 den Oberbefehl über die gerade neu aufgestellte 12. Armee der Wehrmacht. Der Großverband entsteht im Raum Fläming – Dessau – Wittenberg – Halle - Merseburg aus letzten Reserven, Ausbildungseinheiten verschiedener Kriegsschulen und Einheiten des Reichsarbeitsdienstes (RAD) sowie Hitlerjungen. Den Kern bilden die vier neu formierten Infanteriedivisionen "Scharnhorst", "Ulrich von Hutten", "Schill" und "Theodor Körner". Das erfahrene Rahmenpersonal der neuen Verbände stammt aus zuvor an den Fronten zerschlagenen Divisionen. Die Masse der Mannschaften sind aber junge Waffenschüler, Offiziers- und Unteroffiziersanwärter sowie 17- und 18-jährige RAD-Burschen, für die zum Teil nur noch zwei Wochen Ausbildungszeit bleiben.
Schrecken des Krieges bekannt
Einer der Soldaten der 12. Armee ist der damals 18-jährige Hans-Dietrich Genscher aus Reideburg bei Halle. Genscher ist zwar blutjung, die Schrecken des Krieges kennt er aber schon. So erlebt er als 16-jähriger Luftwaffenhelfer der Flak Ende 1943 den großen Bombenangriff auf Leipzig. Nach anschließender Dienstzeit beim RAD meldet er sich im Januar 1945 freiwillig zur Wehrmacht, um - wie er später angibt - einer Einberufung zur Waffen-SS zu entgehen. In Wittenberg wird Genscher zum Pionier ausgebildet. Auch Wenck ist für das hohe Kommando, das ihm am 7. April 1945 durch Hitler übertragen wird, außerordentlich jung. Mit gerade einmal 44 Jahren ist er der jüngste Armee-Oberbefehlshaber der Wehrmacht überhaupt. Unerfahren ist er aber keineswegs.
Armee für die Westfront
Mit seiner 12. Armee soll Wenck eine neue Front im Westen mit aufbauen. Dennoch kann auch sein zusammengewürfelter Großverband nicht verhindern, dass die US-Amerikaner zur Elbe vorstoßen und am 11. und 13. April bei Schönebeck und Barby Brückenköpfe am rechten Flussufer bilden. Am 17. April geht Halle an der Saale verloren, am 20. April Leipzig. Am selben Tag fällt Eilenburg an der Mulde, das die US-Truppen zuvor durch dreitägigen Artilleriebeschuss zu 90 Prozent zerstört haben.
Einsatz gegen die Rote Armee
Am 23. April ändert sich für Wenck und seine ursprünglich für den Einsatz gegen die Westmächte aufgestellte Armee die Marschrichtung. Die 12. Armee wird an diesem Tag angewiesen, von nun an Front nach Osten gegen die vordringende Rote Armee zu machen. Die sowjetischen Truppen hatten zuvor am 16. April auf breiter Front die Oder-Neiße-Linie überschritten und sich in der viertägigen Schlacht um die Seelower Höhen den Zugang zur Reichshauptstadt Berlin erkämpft. Die deutsche Heeresgruppe Weichsel, der die Verteidigung entlang der Oder obliegt, wird dabei in zwei Teile aufgespalten. Während zwei ihrer Armeen nördlich nach Mecklenburg ausweichen müssen, wird die 9. Armee unter dem General der Infanterie Theodor Busse nach Süden in den Raum zwischen Frankfurt und Cottbus abgedrängt. Am 24. April wird sie hier durch den linken Flügel der auf Berlin vorgehenden 1. Weißrussischen Front und den rechten Flügel der über Cottbus auf den Südraum der Reichshauptstadt vorstoßenden 1. Ukrainischen Front eingeschlossen. Rund 80.000 deutsche Soldaten und Tausende Flüchtlinge sitzen in dem Kessel nördlich des Spreewaldes fest, der nun von Osten immer weiter eingedrückt wird.
Realitätsferne Angriffsbefehle
Ungeachtet dessen "operiert" Hitler in seinem Berliner "Führerbunker" immer noch mit Armeen und Divisionen, die allenfalls dem Namen nach noch vollwertige Kampfverbände sind. So befielt er einer nur auf dem Papier existierenden "Armeegruppe" unter dem SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Felix Steiner von Norden auf Berlin zu marschieren, was dieser unterlässt. Daraufhin erteilt der "Führer" der gerade gegen eindringende polnische und sowjetische Verbände in Ostsachen erfolgreich vorgehenden Heeresgruppe Mitte des Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner den Befehl, nach Norden auf Berlin zu marschieren. Doch auch dieser Angriff kommt nie zustande.
"Hitlers letzte Hoffnung"
Als "Hitlers letzte Hoffnung" gilt nun die 12. Armee des General Wenck. Mit den angeblichen Worten – "Wenck, in ihre Hände lege ich das Schicksal Deutschlands" – befielt Hitler am 25. April seinem jüngsten Armeeführer, das mittlerweile eingeschlossene Berlin von Südwesten her zu entsetzen. Zugleich sollen die eingekesselten Reste der 9. Armee von Südosten auf Berlin vorstoßen, was natürlich völlig illusorisch ist. Immerhin setzt sich Wencks 12. Armee in den frühen Morgenstunden des 26. April aus ihren Bereitstellungsräumen im Fläming nach Nordosten auf Potsdam und Berlin in Bewegung. Es ist der allerletzte Angriff der Wehrmacht in diesem Kriege. Wider Erwarten kommen die deutschen Divisionen in dem schwierigen Waldgelände beiderseits der Reichsautobahn München-Berlin zunächst gut voran. Ein Spaziergang ist der Vorstoß aber keineswegs. Der damalige Gefreite Hans-Dietrich Genscher erinnert sich später, dass er hier seinen ersten Toten sieht. Es ist ein Kamerad, der seinen Stahlhelm abgenommen hat und einen Kopfschuss erhält.
"Führer" denkt wieder groß
Der Vorstoß der Armee Wenck lässt Hitler wieder von großen militärischen "Operationen" träumen. Man müsse in Berlin nur zwei bis vier Tage aushalten, bis Wenck und vielleicht auch Busse herankämen und die Reichshauptstadt befreien würden, schwadroniert er während einer Lagebesprechung im "Führerbunker". Doch der Rest der mittlerweile auf ein kleines Waldstück östlich von Halbe zusammengedrückten 9. Armee Busse kämpft längst nur noch um das eigene Überleben. Und auch die 12. Armee Wenck kommt immer schwerer voran. Am 28. April erreichen ihre Truppen den Krankenhauskomplex Beelitz-Heilstätten. Hier werden 3.000 verwundete deutsche Soldaten aus dem Zugriff der Roten Armee befreit und durch Vermittlung des Roten Kreuzes an die US-Amerikaner übergeben.
"Spitze Wenck liegt fest"
Einen Tag später erreichen die Spitzen der 12. Armee Ferch am Schwielowsee. Von hier sind es noch 15 Kilometer bis Potsdam und 30 Kilometer bis zum Rand des Berliner Kessels. Doch für einen weiteren Vormarsch reichen die Kräfte nicht. Stattdessen werden Wencks abgekämpfte Verbände nun selbst durch Angriffe seitens der zahlenmäßig hoch überlegenen sowjetischen Truppen bedroht. In der Nacht zum 30. April geht ein Funkspruch des Chefs des Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Alfred Jodl, bei Hitler ein: "Spitze Wenck liegt südlich Schwielowsee fest. 12. Armee kann daher Angriff auf Berlin nicht fortsetzen." Damit sind auch Hitlers letzte "Endsieg"-Phantasien geplatzt. Noch am selben Tag begeht er im "Führerbunker" Selbstmord. In der Militärgeschichtsschreibung gilt bis heute als fraglich, ob Wenck überhaupt jemals vorhatte, auf Berlin zu marschieren. Für viele seiner meist sehr jungen Soldaten hätte der Kampf um die Reichshauptstadt wohl den sicheren Tod bedeutet. Der damalige Pionier-Gefreite Genscher ist sich jedenfalls zeitlebens sicher, dass es Wenck darum gegangen sei, seine Armee nicht sinnlos zu verheizen. Stattdessen habe er sie und andere deutsche Soldaten zur Elbe und damit in die amerikanische Gefangenschaft geführt.
Rettung für Zehntausende Eingeschlossene
Und in der Tat ermöglicht erst Wencks Vorstoß auf Potsdam der dortigen Garnison den Ausbruch und die anschließende Aufnahme durch die 12. Armee. Das Gleiche gilt für die etwa 20.000 Soldaten der 9. Armee und etwa 5.000 Zivilisten, die sich geradeso aus dem Kessel von Halbe bis zur Armee Wenck durchschlagen können. Genscher erinnert sich später an die ersten Angehörigen dieser Armee, die ihm damals im Raum Treuenbrietzen entgegenkamen. Es waren vom Kampf schwer gezeichnete Offiziere mit Sturmgewehren, die nur knapp ihrer physischen Vernichtung entgangen waren und denen man das auch ansah.
Ein Holzsteg über die Elbe
Nach der Aufnahme dieser Männer zieht sich die 12. Armee nach Westen zur Elbe zurück, dicht gefolgt von sowjetischen Truppen. Bei Tangermünde erreicht die Armee Wenck Anfang Mai den Strom, dessen westliches Ufer bereits von den US-Amerikanern besetzt ist. Über einen schmalen Holzsteg, der über die Trümmer der gesprengten Elbebrücke verläuft, erreichen kurz vor Kriegsende am 6. Mai zehntausende deutsche Soldaten und Zivilisten das rettende Westufer. Auch der 18-jährige Hans-Dietrich Genscher ist unter ihnen. Noch Jahrzehnte später erinnert er sich, wie er über die reißende Elbe balanciert, während von hinten sowjetische Granaten einschlagen.
Kriegsende in US-Gefangenschaft
In US-Gefangenschaft erlebt der junge Mann aus Reideburg bei Halle kurz darauf die Gesamtkapitulation der Deutschen Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa mit. Bereits im Juli 1945 wird er aus der Gefangenschaft entlassen und kehrt in seine Heimat zurück. 1952 geht er in den Westen, wo er 45 Jahre nach Kriegsende als Bundesaußenminister an der Wiedervereinigung seines Vaterlandes mitwirkt. General Wenck, der Genscher und die Mehrzahl der anderen blutjungen Soldaten der 12. Armee statt im Kampf um Berlin zu verheizen über die Elbe in amerikanische Gefangenschaft geführt hat, erlebt die Deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 nicht mehr mit. Er stirbt 1982 bei einem Autounfall in Österreich.