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Sozialreformerin Marie Juchacz (1879-1959)Lebenswerk Arbeiterwohlfahrt: Wie eine Frau die Solidarität neu erfand

02. März 2021, 05:00 Uhr

"Hilfe zur Selbsthilfe". So lautet bis heute das Motto der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Sie wurde 1919 gegründet, um Arbeiter von der staatlichen Armenpflege, Stiftungen und Kirche unabhängig zu machen. Nach und nach wuchs die AWO zu einem modernen Dienstleister im Wohlfahrtsbetrieb heran. Doch in der DDR war die AWO nicht erlaubt. Erst am 18. Februar 1990, 57 Jahre nach ihrem Verbot, wurde sie in Ostdeutschland wieder gegründet.

"Meine Herren und Damen ..."

Mit diesen Worten gewann Marie Juchacz die Aufmerksamkeit der Weimarer Nationalversammlung am 19. Februar 1919. Am Rednerpult stand eine versierte politische Kämpferin und emanzipierte Frau. Die Sozialdemokratin war die erste Frau, die im Parlament das Wort ergreifen durfte - ein Vierteljahr, nachdem Frauen in Deutschland überhaupt erst das Wählen und Gewähltwerden erlaubt worden war.

Lebenswerk von Marie Juhacz: die Arbeiterwohlfahrt

Viel stärker als durch ihre Rede und ihre weitere parlamentarische Arbeit bleibt Marie Juhacz durch die Gründung eines bis heute bestehenden Verbandes in Erinnerung. Am 13. Dezember 1919 gründete sie die Arbeiterwohlfahrt, auch AWO genannt, die zu ihrem Lebenswerk wurde. Die Idee für die AWO brachte sie beim Parteiausschuss der SPD vor. "Ich habe Ihnen heute auch einen neuen Organisationsvorschlag zu machen", sagte Juchacz im Ausschuss. "Nun geht mein Vorschlag mit Billigung des Parteivorstandes dahin, dass wir innerhalb der Parteiorganisation eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege konstituieren. Ich schlage vor, dass wir zunächst eine Zentralinstanz schaffen, einen Ausschuss, und dass wir wir dann im Rahmen unserer Bezirke Landes- und örtliche Organisationen, Wohlfahrtsausschüsse, bilden." Der Hauptausschuss wurde in Berlin ins Leben gerufen.

Unter dem Dach der Sozialdemokraten entstehen in Folge im ganzen Land Einrichtungen zur Linderung der Arbeiternot - Kurheime für Alkoholkranke, Altersheime für proletarische Rentner und Erholungslager für Kinder. "Hilfe zur Selbsthilfe" ist von Anfang an das Motto der AWO. Neben dem gelebten Grundsatz hat die AWO zur damaligen Zeit noch ein anderes besonderes Anliegen: Sie fördert die Weiterbildung und Qualifizierung von Frauen. Marie Juchacz war das auf Grund ihrer eigenen Biografie besonders wichtig.

Frei und gleichberechtigt wollte sie sein

Marie Juchacz wird am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe - heute Gorzów Wielkopolski in der polnischen Woiwodschaft Lebus - geboren. 1906 zieht die Schneiderin, frisch geschieden, mit ihren zwei kleinen Kindern nach Berlin. Damals ist die Stadt ein brodelnder Millionenmoloch. In der Großstadt gibt es für Frauen mehr Möglichkeiten, ein anderes Leben als das einer Ehefrau zu führen.

Wenn man sich hat scheiden lassen, dann konnte man als Schneiderin gar nichts mehr machen. Die Leute wollten nicht, dass eine geschiedene Frau für sie irgendetwas arbeitet.

Lydia Struck, Urgroßnichte von Marie Juchacz | Spur der Ahnen, 05.12.2018

Sie zieht mit den Kindern zur Familie ihres älteren Bruders. Schon bald kommt ihre jüngere Schwester Elisabeth Röhl nach. Die Frauen wollen frei und gleichberechtigt leben. Doch politisch sind sie es noch nicht - sie dürfen weder wählen, noch gewählt werden. Die Partei, die das ändern will, ist die SPD. Doch erst 1908 dürfen Frauen in einen Verein oder eine Partei eintreten. Juchacz und Röhl gehen sofort in die SPD.

Suppenküchen, Wärmestuben und Arbeit

Als die SPD beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges ins Hurra der Kriegstreiber einstimmt, ist Marie Juchacz nicht glücklich damit. Doch sie trägt den Entschluss der Parteimehrheit ohne Widerspruch mit. Zu tun gibt es auch im Krieg genug. Marie Juchacz organisiert Suppenküchen, Wärmestuben und verschafft damit Frauen Arbeit. Hilfe zur Selbsthilfe ist schon damals ihr Leitmotiv. Dafür kooperiert sie auch mit dem Nationalen Frauendienst, gegründet von bürgerlichen Frauen.

Dann überschlagen sich im November 1918 die Ereignisse. Am 9. November ruft Juchacz' Parteifreund Philipp Scheidemann die Republik aus. Ihr Chef Friedrich Ebert wird Reichskanzler. Und die neue Regierung führt am 12. November das Frauenwahlrecht ein. Marie Juchacz wird eine von insgesamt 37 weiblichen Abgeordneten im gesamten Parlament und kann Anträge einbringen - wie jenen zur Gründung der AWO.

Hochzeit der Arbeiterwohlfahrt

1925 fängt die AWO an, sich für die körperliche Selbstbestimmung der Frau einzusetzen. Sie engagiert sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 und gründt Ehe- und Sexualberatungsstellen im ganzen Land. 1928 wird in Berlin die erste Wohlfahrtschule gegründet: eine Ausbildungsstätte der sozialen Arbeit. Durch die Ausgabe von Stipendien konnten Frauen ohne finanzielle Not dieser Ausbildung nachgehen. Gerade durch ständige Notverordnungen und wenige soziale Rechtsansprüche in der Weimarer Demokratie wurde die soziale Hilfstätigkeit der AWO zu einem wichtigen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens.

Ende der AWO im Nationalsozialismus

Am 30. Januar 1933 kommt Adolf Hitler an die Macht. Nur wenige Wochen später wird die AWO von den Nationalsozialisten verboten und zwangsweise aufgelöst. Juchacz bleibt bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung Reichstagsabgeordnete und Vorsitzende der AWO. 1933 emigriert sie erst ins Saarland, dann ins Elsass, nach Marseille und 1941 in die USA. Nach dem Krieg wird die AWO 1946 als parteipolitisch und konfessionell unabhängige Hilfsorganisation neu gegründet. Marie Juchacz kehrt 1949 aus den USA zurück und hilft bis zu ihrem Tod am 28. Januar 1956 beim Wiederaufbau der AWO in der Bundesrepublik.

In der DDR: Volkssolidarität statt AWO

In der DDR war die AWO nicht zugelassen. Ein vergleichbares Konzept verfolgte die Volkssolidarität, die es seit 1945 gab und die sich als Volksbewegung zur Bekämpfung von Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit infolge des Zweiten Weltkrieges konstituierte. In der DDR wurde aus der Volksbewegung dann eine Massenorganisation, die sich - staatlich gelenkt und finanziert - hauptsächlich um die Betreuung älterer Menschen kümmerte. 900 solcher Treffs gab es zum Ende der DDR. Am 18. Februar 1990 jedoch - noch zu Zeiten der DDR - durfte sich die AWO im Osten wieder neu gründen.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Weimar und die 37 Frauen | 03. März 2021 | 02:15 Uhr