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MEDIEN360G im Gespräch mit...Dr. Bernhard Rohleder

30. April 2020, 19:37 Uhr

Der Hauptgeschäftsführer von Bitkom e.V. fordert nach der Corona-Krise das Ende von Papier in den Schulen. Digitale Bildung sei dabei aber kein Selbstzweck.

von Steffen Grimberg

Steffen Grimberg: Digitale Bildung in Corona-Zeiten ist ein ganz großes Thema. Was ist denn Ihre Erwartung? Wird die Corona-Krise für digitale Bildung eine Art Katalysator-Funktion haben, wird jetzt vieles möglich, was vorher vielleicht eher unmöglich oder unrealistisch schien?

Dr. Bernhard Rohleder: Wir gehen davon aus, dass im Bildungsbereich das Rad nicht nochmal zurückgedreht wird und nach Corona alles so sein wird wie vor Corona. Viele Menschen - das gilt für Eltern, das gilt auch für Lehrer, auch für einige Schülerinnen und Schüler - die machen jetzt sehr positive Erfahrungen mit dem Einsatz digitaler Technologien. Und ich bin sehr sicher, dass diese positiven Erfahrungen über den Tag hinaus wirken werden und auch Wirkung zeigen werden, wenn es darum geht, digitale Lerninhalte anzunehmen.

Steffen Grimberg: Es gibt jetzt trotzdem natürlich auch viele Klagen, dass Sachen nicht funktionieren, dass es an Ausrüstung fehlt usw. Was sagt denn vielleicht auch die momentane Erfahrung in der Corona-Krise, wo die Schulen geschlossen sind, über den bisherigen Zustand der digitalen Bildung in Deutschland aus?

Dr. Bernhard Rohleder: Es wurde bis vor sechs Wochen in deutschen Schulen genauso unterrichtet wie vor 40 Jahren. Da hat sich wenig geändert. Einiges können wir messen, das gilt zum Beispiel für den Geräteeinsatz im Unterricht. Hier gibt es so gut wie keine Steigerungen in den letzten zehn Jahren. Und hier gibt es jetzt Lerneffekte bei den Schulträgern. Es gibt im Übrigen auch sehr extreme Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen. Es gibt Schulen, die sind sehr gut vorbereitet. Das gilt zum Glück auch für die Schule, an der meine Tochter Unterricht hat, wo es überhaupt kein Problem gab, von dem Unterricht im Klassenraum umzustellen auf den Unterricht im digitalen Klassenraum. Das funktioniert ganz hervorragend. Die Lehrer wissen, wie das geht. Es gibt die Lerninhalte und die Schüler haben großen Spaß dran. Aber es gibt Schulen und Lehrerinnen und Lehrer, die regelrecht verzweifelt sind, weil sie nicht wissen, wie sie den Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern halten sollen.

Steffen Grimberg: Wir haben ja da auch viele Klagen gehört, dass eben Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland zu schlecht vorbereitet werden, sich selber vielleicht auch nicht genügend dafür interessieren. Auf der anderen Seite gibt es Meinungen, die sagen: „Jetzt ist es aber auch gemein, hier wieder auf den Lehrern rumzuhacken.“ Wo tendieren Sie denn hin? Wie gut sind Deutschlands Lehrerinnen und Lehrer aufgestellt für digitale Bildung?

Dr. Bernhard Rohleder: Es gibt extreme Unterschiede, nicht nur zwischen älteren und jüngeren Lehrerinnen und Lehrern, sondern auch zwischen technologieaffinen und eher technologieaversen Lehrern, die es auch gibt. Aber man kann den Lehrern nicht zum Vorwurf machen, dass sie nicht ausreichend vorbereitet gewesen seien auf diese ja auch für alle sehr überraschende Situation. Sondern Lehrer haben ihren Lehrauftrag, ihren pädagogisch-didaktischen Auftrag erfüllt im Klassenraum und sind jetzt eben ganz anders gefordert. Viele Lehrer strengen sich extrem an, arbeiten derzeit auch extrem viel, um das, was in den Schulen in den letzten zehn, zwanzig Jahren verpasst wurde, jetzt innerhalb ganz kurzer Zeit nachzuholen.

Steffen Grimberg: Erwarten Sie, dass sich am Lehrerberuf etwas ändern wird, dass also vielleicht auch durch diese Erfahrung, vielleicht eben auch durch die Defizite - also das, was nicht klappt, was man jetzt merkt - sich dort in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung etwas ändern wird? Also dass der Stellenwert von digitalen Vermittlungstechniken und so weiter in der Ausbildung stärker betont wird?

Dr. Bernhard Rohleder: Es muss an den Hochschulen dafür gesorgt werden, dass jemand, der neu an die Schule kommt, nicht nur in der Lage ist, mit Tafel und Kreide umzugehen, sondern selbstverständlich auch in der Lage sein muss, mit neuen digitalen Lernmedien und Inhalten umzugehen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber wir können nicht darauf warten, dass diejenigen, die jetzt von den Hochschulen in die Schulen kommen, irgendwann den kompletten Lehrkörper stellen. Sondern wir müssen uns insbesondere auf die Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung konzentrieren, um dafür zu sorgen, dass diejenigen, die jetzt bereits an den Schulen sind auch wissen, wie digitaler Unterricht geht.

Steffen Grimberg: Sie hatten gerade schon auf dem sehr unterschiedlichen Ausstattungsstand hingewiesen. Der Digitalpakt Schule soll da ja weiterhelfen. Wie steht denn Ihrer Meinung nach Deutschland da - also ein großes Industrieland, in dem aber zum Beispiel eine flächendeckende WLan-Versorgung ja, für die Gesamtbevölkerung in hohem technischen Standard noch nicht gewährleistet ist, was natürlich auch für die Schulen gilt.

Dr. Bernhard Rohleder: Wir haben ja jetzt in der Corona-Krise gemerkt, dass unsere Netze in der Regel besser sind als ihr Ruf. Unsere Netze haben den zunehmenden Traffic durchaus sehr gut verkraftet. Und Schulen sind hier in vielen Fällen auch tatsächlich selbst mit einer Entscheidung gefordert. Es gibt für die Schulen sehr preisgünstige und zum Teil auch kostenlose Angebote von den Netzbetreibern, dann aber schmalbandige Internetleitungen zu bekommen. Und die meisten Schulen nehmen dieses preiswerteste Angebot an und eben nicht das „50 Megabit pro Sekunde“- oder zum Teil auch das vorhandene „Gigabit pro Sekunde“-Angebot. Also das ist eine Entscheidung der Schulen. Die brauchen natürlich auch die Mittel dafür. Aber wir reden hier über 10, 20, 30 Euro im Monat und nicht über Beträge, von denen man sagen müsste: „Das kann sich eine Schule nicht leisten.“

Steffen Grimberg: Kritiker dieser Entwicklung, wie Professor Spitzer, mit dem wir auch gesprochen haben, sagen: „Ja, aber Hardware-Förderung bringt eigentlich gar nichts. Wenn, müsste man da viel stärker auf Software gehen, also auf intelligente Learning-Programme. Er hatte da einige positive Beispiele für den Mathematikunterricht genannt, war aber, was alle anderen Fächer angeht, wenn ich ihn richtig verstanden habe, eher skeptisch. Wie sehen Sie das?

Dr. Bernhard Rohleder: Die meisten Schülerinnen und Schüler haben ja die Geräte zu Hause. Wir messen das regelmäßig: Das gilt bereits für die Zehnjährigen, die entweder ein Tablet oder ein Notebook oder einen PC zu Hause haben. Aber das Gerät ist eben nicht eingebunden in das Schulnetz. Daran mangelt es. Es mangelt an Plattformen, in die Schülerinnen und Schüler sich einwählen können und wo sie dann mit ihren Klassenkameraden kommunizieren können. Wo sie Hausaufgaben nicht nur gestellt bekommen, sondern wo sie sie auch auf der Plattform erledigen können, wo sie kontrolliert werden. Und wo sie auch mit ihren Lehrerinnen und Lehrern in Kontakt treten können. Also daran mangelt es, an diesen Kommunikations-Plattformen. Und im Übrigen auch an den Lerninhalten. Die erstellen die meisten Lehrer noch selbst in ihrer Freizeit. Und hier brauchen wir einen gemeinsamen Ansatz, der dafür sorgt, dass die Lehrer so einfach wie sie zum Beispiel auch Netflix schauen, ihre digitalen Lehrangebote im Internet anbieten und anwenden.

Steffen Grimberg: Eine Kritik gegenüber der Politik lautet ja: Die Politik habe da aufs falsche Pferd gesetzt, weil sie eben auch über den Digitalpakt Schule jetzt erst mal nur Hardware fördert. Würden Sie diese Kritik teilen?

Dr. Bernhard Rohleder: Also der Digitalpakt Schule ist zunächst einmal sehr üppig ausgestattet mit fünf Milliarden Euro. Damit kann man schon einiges machen. Und was man damit nicht machen darf, ist nur neue Geräte anschaffen. Also, wenn wir heute für fünf Milliarden Euro neue Technologie kaufen, dann haben wir in fünf Jahren einen riesigen Berg Elektroschrott in den Schulen. Darum kann es nicht gehen, sondern der Digitalpakt Schule besteht aus drei Elementen. Das eine sind Geräte und ist auch die Infrastruktur, also eine WLan-Ausleuchtung aller Klassenräume. Das zweite sind aber die Lerninhalte. Und das dritte ist die Schulung der Lehrerinnen und Lehrer. Die drei Dinge müssen zusammenkommen und dann wirkt der Digitalpakt Schule auch.

Steffen Grimberg: Es gibt jetzt auch Stimmen, die warnen davor, dass sich aber eine Art „digital divide", also eine digitale Spaltung ergeben könnte, gerade eben zwischen - sagen wir mal - bildungsaffinen Schülerinnen und Elternhäusern und den nicht so bildungsaffinen, wo zum Beispiel die Geräteausstattung nicht so üppig ist. Beziehungsweise auch die Eltern selber vielleicht zum Beispiel jetzt in Corona-Zeiten gar nicht so in der Lage sind, wie andere Eltern ihren Kindern sowohl technisch als auch inhaltlich zur Seite zu stehen.

Dr. Bernhard Rohleder: Ja, dass Elternhäuser unterschiedlich sind, das ist nicht neu. Das hat mit Digitalisierung auch wenig zu tun. Und dass es Schüler gibt, die zuhause sehr stark gefördert werden und andere, die eher vernachlässigt werden, das gab's schon immer. Und das ist nicht gut. Und insofern müssen wir jetzt natürlich dafür sorgen, dass dort, wo die Haushalte die Mittel nicht haben, um ihre Kinder, ihre schulpflichtigen Kinder, mit jener Technologie auszustatten, die sie brauchen, um digitalem Unterricht zu folgen, dass sie diese Geräte dann auch bekommen. Aber wir reden hier nicht über große, vierstellige Beträge. Sondern es gibt sehr gut für den Unterrichtseinsatz geeignete Notebooks bereits ab 300 Euro. Also es sind Beträge, wenn wir das vergleichen mit dem, was ausgegeben wird für andere Schulmaterialien - vom Lehrbuch bis zum Zirkel - sind das Beträge, die finanzierbar sind. Und dafür sollten dann durchaus auch Mittel, wo es Bedarf gibt, aus dem Digitalpakt eingesetzt werden.

Steffen Grimberg: Manche Bildungsforscher sagen jetzt: „Hände weg von zu viel Digitalem“ und sagen, es gibt keinerlei Belege, dass der Einsatz von digitaler Bildung Schülerinnen und Schülern hilft. Im Gegenteil. Wenn man zum Beispiel darauf verweist, dass in Skandinavien das Schulsystem deutlich vorangeschrittener war, schon vor einigen Jahren, wird darauf verwiesen, dass in den Pisa-Studien die skandinavischen Länder in den letzten Jahren nachgelassen haben. Was dann von einigen Bildungsexperten eben genau mit dem Einsatz von zu viel digitalen Schulungsmitteln in Verbindung gebracht wird. Wie sehen Sie das?

Dr. Bernhard Rohleder: Es macht die Mischung aus guter Zuwendung durch Lehrerinnen und Lehrer - und guter Technologie, die motivierend wirkt für die Schülerinnen und Schüler. Und diese Mischung, die muss stimmen. Es darf keinen Weg in das reine analoge Unterrichten, also zurück, geben. Aber wir dürfen es mit der Digitalisierung natürlich auch nicht übertreiben. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Es ist Mittel zum Zweck. Mittel zum Zweck, Bildung zu demokratisieren und zu individualisieren, weil es dann nicht mehr Bildung von der Stange gibt: Ein Buch für alle, schlagt bitte auf auf Seite 25 und macht die Aufgaben eins bis drei. Sondern durch digitale Medien werden individuelle Lehrinhalte den Schülerinnen und Schülern angeboten und dann auch immer wieder angepasst an den ganz individuellen Lernfortschritt. Und das ist ein unglaubliches Voranschreiten von didaktischen Mitteln, die wir hier haben, so dass die Lehrerinnen und Lehrer sich wieder darum kümmern können, mit den schwierigen Schülern umzugehen und sie enger und besser und persönlicher zu betreuen.

Steffen Grimberg: Letzte Frage, Herr Rohleder: Wenn Sie - sagen wir mal in zwei, drei Jahren, ich weiß nicht, was für ein Zukunftshorizont jetzt hier der Geeignete ist - schauen, was ist so Ihre Vision: Was sollte dann Stand der Dinge bei uns sein im deutschen Bildungssystem? Und was hat vielleicht Corona damit zu tun?

Dr. Bernhard Rohleder: Es sollte Standard sein, dass in den Klassen nicht mehr mit Papier gearbeitet wird, sondern mit digitalen Medien. Und es sollte Standard sein, dass alle Lehrer wissen, wie sie mit digitalen Medien umgehen. Und es sollte Standard sein, dass sie viel enger mit ihren Schülern zusammenarbeiten, dort, wo sie wirklich gebraucht werden, so dass sie sich weniger auf die Vermittlung von Unterrichtsstoff konzentrieren, als vielmehr darauf konzentrieren können, soziale Kompetenzen - wozu auch eine Lernkompetenz gehört - zu vermitteln und damit dafür zu sorgen, dass wir mehr Bildungsgerechtigkeit durch digitale Mittel in Deutschland bekommen.

Steffen Grimberg: Auf der berühmten Schulnoten-Skala von eins bis sechs, wo meinen Sie werden wir landen dann in diesem Zeithorizont? Also was werden wir schaffen? Wird’s eher ein „Ungenügend“ sein oder ein „Sehr gut“ oder welche Note würden Sie da als Prognose wagen?

Dr. Bernhard Rohleder: Die Durchschnittsnote hilft uns nicht weiter. Wir werden eine starke Spreizung haben im Bildungswesen, im Schulwesen in Deutschland. Wir werden viele Schulen haben, die eine „Eins“ verdienen, und wir werden auch Schulen haben, die ein „Ungenügend“ erhalten. Und insofern wird es für Eltern immer schwieriger werden, die richtige Schule für ihre Kinder auszuwählen, so dass sie eine optimale Bildung in der Schule auch bekommen.

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