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TikTok vs. TVWenn Kriegsberichterstattung viral geht

09. September 2022, 17:19 Uhr

Das erste Opfer eines Krieges ist immer die Wahrheit, lautet ein Spruch, bei dem nicht klar ist, wer ihn zuerst gesagt hat. Aber er stimmt. Vor allem in Zeiten von Kriegsberichterstattung per Social Media kommt es noch stärker als bisher darauf an, wer was zuerst gesagt hat - und ob es überhaupt stimmt. Zwar stand Kriegsberichterstattung schon immer in dem Ruf, zensiert oder von den Kriegsparteien zumindest manipuliert zu sein. Daran hat sich auch im digitalen Zeitalter nichts geändert.

von Steffen Grimberg

Doch heute senden die kriegführenden Parteien selbst. Ganze Armeen bis hinunter zu individuellen Soldatinnen und Soldaten posten ihre persönlichen Botschaften. Dazu kommen die Nachrichten und Momentaufnahmen von und aus der Zivilgesellschaft. Ist die klassische, über die traditionellen Medien transportierte Kriegsberichterstattung damit sinnlos geworden?

Informationstechnik und Militär

Die Geschichte der Medien und der Informationstechnologie war von Anfang an immer eng mit Krieg und Militär verbunden, schrieb schon vor rund 30 Jahren der Journalistik-Professor Claus Eurich in seinem Buch Tödliche Signale - Die kriegerische Geschichte der Informationstechnik von der Antike bis zum Jahr 2000. Vor allem in diesen letzten 30 Jahren hat sich dabei nochmals ein massiver Wandel vollzogen. Die Geschichte von Kriegen lässt sich auch als Mediengeschichte erzählen. "In der Erinnerung vieler Menschen sind verschiedene kriegerische Auseinandersetzungen mit den entsprechenden medialen Formen verbunden", schreibt die US-Journalistin Kaitlyn Tiffany im Nachrichtenmagazin The Atlantic.

Vietnam als erster "TV-Krieg"

Der Vietnamkrieg (1955-1975) war vor allem in seiner Spätphase der erste "Fernsehkrieg". Spätestens nach dem Kriegseintritt der USA 1964 berichteten US-amerikanische und internationale Sender ausführlich und genossen eine noch die da gewesene Unterstützung durch die US-Armee und freien Zugang zu den Kriegsschauplätzen. Der Krieg fand praktisch im Wohnzimmer statt und sorgte in den USA und Europa zu einer vor allem von der Jugend getragenen Protestbewegung. Bis heute vertreten manche in der Medienwissenschaft die These, diese ungeschminkte Berichterstattung habe letztlich dafür gesorgt, dass die Einstellung in den USA zum Krieg kippte und sich die USA 1973 geschlagen zurückzogen.

Live-News über CNN

Der Erste Golfkrieg ging als "CNN-War" in die Mediengeschichte ein. Die 1980 in den USA gegründete Kabelfernsehstation war der erste reine Nachrichtenkanal weltweit und berichtete 1991 als zunächst einziger Sender aus Bagdad. Die unscharf-grünen Nachtaufnahmen der irakischen Hauptstadt unter Beschuss bedeuteten für CNN den Durchbruch. CNN, das heute zum internationalen Medienkonzern Warner Bros. Discovery gehört, gilt als liberal-überparteilicher Sender. Im Zweiten Irak-Krieg 2003 und während der bis 2011 dauernden Besetzung des Landes durch amerikanische, britische und andere Streitkräfte der "Koalition der Willigen" kam dagegen der konservative US-Nachrichtensender Fox-News groß heraus. Dieser Zweite Irak-Krieg war auch die Geburtsstunde des so genannten "Embedded Journalism", bei dem die Berichterstattenden direkt in militärische Einheiten "eingebettet" waren und mit diesen vorrückten.

Embedded Journalism

"Nie zuvor waren Journalisten in einem Krieg mit ausdrücklicher Genehmigung des Militärs so nah am Geschehen und noch nie zuvor gab es so viele Berichte von der Front wie im Irak-Krieg", schreibt die Medienwissenschaftlerin Sandra Dietrich. "Kritiker warnten, dass die eingebetteten Journalisten unter der Zensur des US-Militärs stehen und als Sprachrohr der US-Regierung fungieren würden. Ihre Berichte würden einer Sportberichterstattung ähneln, einseitige Perspektiven produzieren und den Krieg verherrlichen, lauteten die Vorwürfe. Befürworter des Konzepts priesen embedding als einzigartige Augenzeugenschaft für Kriegsereignisse, die den Zuschauern in Echtzeit (…) einmalige Einblicke in die Realität des Krieges bieten würde." Für das US-Militär hingegen sei das Konzept des "embedded journalism" ein Erfolg gewesen. "Ansehen und Glaubwürdigkeit des US-Militärs in der Öffentlichkeit sind durch die meist positive Berichterstattung der 'embedded journalists' gestiegen, so Dietrich.

Krieg der Tweets

"Das Internet belohnt schnell zusammengestellte Narrative, die sich anscheinend mit ein paar Links auf andere Websites belegen lassen", schreibt Kaitlyn Tiffany weiter. Entsprechend sei jeder folgende Krieg als der erste seiner Art mit Blick auf Social Media beschrieben worden: 2012 hätten sich Israel und die radikal-islamische Hamas so den ersten "Krieg der Tweets" geliefert. Ein Jahr später ging der Bürgerkrieg in Syrien als erster Konflikt der Welt in die Mediengeschichte ein, der bei der internationalen Öffentlichkeit vor allem via YouTube und Liveleaks ankam. Das lag auch an neuen medialen Angebote wie dem 1994 in Kanada als Punk-Magazin gestarteten Vice, das über seine News-Videos mit ungeschönter, provokativer Berichterstattung aus dem Krieg auf sich aufmerksam machte.

Digitaler Raum als strategisches Ziel

2016 rief die New York Times den "ersten Facebook-Krieg" aus, weil hier irakische und kurdische Einheiten live ihren Vormarsch gegen den Islamischen Staat (IS) im Nordirak streamten. Und im gleichen Jahr erklärte das US-Außenministerium, der IS sei die "erste terroristische Gruppe, die sowohl reales geografisches Terrain als auch die digitale Sphäre besetzt" hielten.

Ist der Ukraine-Krieg jetzt der erste "TikTok-Krieg"? Zumindest ist die App Made in China so präsent, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj direkt an die zumeist junge TikTok-Community appellierte. Wie die internationale Nachrichtenagentur Reuters berichtet, könne sie laut Selenskyj helfen, den Krieg zu beenden.

Einfluss auf andere Medien

"Kriegsberichterstattung" via TikTok kann nach Einschätzung des Mediennetzwerks Bayern dabei aber auch anderen Medien bei ihrer Berichterstattung helfen. "Kriegsberichterstattung auf TikTok und Co.: Wie Redaktionen die Plattform nutzen können", heißt ein Angebot des Mediennetzwerks, das ein Ableger der für die Aufsicht über den privaten Rundfunk und Medienkompetenzförderung zuständigen Bayerischen Landesmedienanstalt BLM ist.

Für die ARD hat sich das neue SWR-Format "Vollbild" mit der Rolle von TikTok im Ukraine-Krieg beschäftigt. Die Folge "TikTok-Krieg: So machen Russland und Ukraine TikTok zum Schlachtfeld" ist in der ARD-Mediathek abrufbar.

Ist Kriegsberichterstattung damit sinnlos geworden?

Gerade die hier belegten Beispiele, wie leicht TikTok für Propaganda und Desinformation genutzt werden kann, zeigen, dass die klassische journalistische Berichterstattung gerade in Konflikt- und Krisensituationen durch nichts zu ersetzen ist. Denn für sie gehört die Überprüfung von Quellen und eine Gegenrecherche auch unter schwierigen Rahmenbedingungen unabdingbar dazu. Außerdem wird kenntlich gemacht, ob bestimmte Informationen oder Berichte einer Zensur oder Beeinflussung, beispielsweise durch das Militär oder staatlicher Stellen, unterlagen oder schlicht nicht überprüft werden konnten. Auch diese Hinweise fehlen bei den meisten Social-Media-Angeboten. Dabei ist die Verifizierung der Inhalte heute wichtiger denn je.

Allerdings stoßen auch die klassischen Medien durch die Beschleunigung der Berichterstattung an ihre Grenzen. Der im vergangenen Jahr verstorbene ARD-Journalist Gerd Ruge, der seit den 1970er Jahren von vielen Kriegsschauplätzen berichtete, kritisierte diesen Trend. Viele Berichterstatter müssten liefern, "ohne vorher recherchieren zu können". Der "Abgleich von Inhalten mit der Wirklichkeit ist schwieriger geworden", so Ruge. Er habe zu seiner Zeit "länger nachdenken" können.