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Zwischen Sternchen und IgnoranzWie deutsche Medien mit der Genderfrage umgehen

06. Juli 2021, 15:05 Uhr

„Nutzen Sie Genderzeichen wie den Genderstern, wenn es für die Menschen passt, die Sie mit Ihren Gedanken erreichen wollen“, lautet ein Schreibtipp von der Seite www.genderleicht.de, einer Initiative des Journalistinnenbundes. Womit man gleich bei des Pudels Kern wäre: Gibt es Menschen, die man mit Gedanken über eine geschlechtergerechte Sprache NICHT erreichen will? Anders gefragt: Kann oder darf man (sic!) das Gendern ignorieren?

von Jenni Zylka und Steffen Grimberg

In den Massenmedien hat sich jedenfalls längst herumgesprochen, dass sich nicht jede Friseurin oder Ärztin mit dem generischen Maskulinum – also dem „Friseur“ oder „Arzt“ – pauschal mitgemeint fühlt.

Denn die bis heute überwiegend eingesetzte männliche Bezeichnung verankert bestimmte, falsche Vorstellungen. Sogar dann, wenn sie inklusiv, also alle Geschlechter vereinend, gemeint ist. Viele Studien zeigen, dass die Menschen tatsächlich an einen männlichen Arzt denken, wenn von „Ärzten“ die Rede ist – und trauen infolgedessen den männlichen Vertretern dieses Berufes mehr zu.

taz gendert, Springer nicht

Eine Pionierin für das Bewusstmachen solch subtil-gesellschaftlicher Empfindungen ist die überregionale Tageszeitung taz. Entstanden 1978 als linksalternatives Projekt, lässt sie ihren Journalistinnen und Journalisten beim Gendern schon immer kreative Freiheit. Seit Mitte der 1980er Jahre gendert sie – als erste deutsche Tageszeitung – vor allem mit dem „Binnen-I“.

Es ist ein Unterschied, ob ich von unten nach oben den Sprachgebrauch ändere, oder ob ich von oben nach unten Sprachvorschriften mache.

Ulrike Winkelmann | taz-Chefredakteurin

Heute benutzen die Autorinnen und Autoren je nach Laune und Überzeugung das *, den Unterstrich, den Doppelpunkt sowie alternative oder alternierende Gender-Pluralformen. Zudem thematisiert die taz öffentlich die politische Dimension solcher Regeln. Ulrike Winkelmann, eine der beiden Chefredakteurinnen, äußerte sich dazu im Herbst 2020: „Als Vorreiterin der Sprachpolitik muss die taz auch achtgeben, dass die feministische und inklusive Sprache, die sich gegen Machtverhältnisse richtet, nicht selbst zum Machtmittel wird. (…) Es ist ein Unterschied, ob ich von unten nach oben den Sprachgebrauch ändere, oder ob ich von oben nach unten Sprachvorschriften mache.“

Die Gefahr, so Winkelmann, lauere selbst bei den besten Intentionen „Wirklichkeiten zu konstruieren, die viele nicht als die ihre begreifen“. Als Beispiel nennt sie die „Ostfrau“, die nach 1990 von der Westfrau gebeten wird, sich „Dreherin“ zu nennen, obwohl ihr Selbstverständnis ein ganz anderes ist.
Genau wie das von Migrantinnen und Migranten, die den Begriff „BIPoC“ (Black, Indigenous and People of Color) vielleicht gar nicht benutzen möchten.

Die Zeitungen des Axel-Springer-Verlags dagegen zeigen eine etwas andere Haltung – sie halten sich an die „deutsche Rechtschreibung“. Doch man „diskutiere“, so Springer: „Grundsätzlich verschließen wir uns nicht gegenüber Reformansätzen, wie sie sich immer wieder aus der natürlichen Sprachentwicklung ergeben. Maßgeblich für die Schreibweisen in den journalistischen Medien von Axel Springer ist aber weiterhin die allgemeine deutsche Rechtschreibung sowie die Orientierung am Sprachgebrauch unserer Leser“, heißt es auf Anfrage.

Die FAZ nimmt Rücksicht auf die „Sprachgeschichte“

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) bleibt dagegen bislang hart. Sie gendert „weder akustisch (mit kurzen Pausen), noch schriftlich (also nicht ‚LKW-Fahrende‘ oder durch Formen wie Genderstern, Doppelpunkt etc.)“, teilt die FAZ-Pressestelle auf unsere Anfrage mit. Selbstverständlich beziehe sich aber „das aus der Sprachgeschichte entwickelte Muster, die männliche Form zu nennen, immer zugleich auf alle Geschlechter“. Mit Kolumnisten und Gastautoren werde „vorher abgestimmt, wie die Sprachpraxis bei der FAZ gehandhabt wird“, mit Interviewpartnern wird üblicherweise vorher abgestimmt, wie das Gegenüber angesprochen werden möchte“. Die männliche Form zu verwenden, sei dabei „keine Ablehnung wertschätzender Sprache, sondern eine Entscheidung für Einfachheit und Klarheit im Ausdruck.“

Maßstab der FAZ sei, die Lesefreundlichkeit zu erhalten. Das Thema „Gendern“ werde dabei natürlich redaktionell begleitet, die FAZ bilde hier „die jeweils aktuellen Debatten und Entwicklungen in unseren Publikationen in ihrer gesamten Vielfalt ab“.

Bei der Funke-Mediengruppe, einer der größten deutschen Regionalzeitungsverlage (u.a. Thüringer Allgemeine, TLZ, OTZ) prüft aktuell eine Projektgruppe der Chefredaktionen, in welcher Form gendergerechte Sprache in den Blättern umgesetzt werden kann. Dabei dürfe die Lesbarkeit von Texten aber nicht leiden, so Pressesprecher Dennis Jerchow. Insgesamt will die Funke-Gruppe „keine dogmatischen Regeln zu genderneutraler Sprache aufstellen, weil wir überzeugt sind, dass wir als Unternehmen, dessen Kernkompetenz Wort und Sprache sind, flexibel in den Formulierungen bleiben sollten“. Allerdings gibt es klare Vorgaben, nach denen in der Kunden- und der internen Kommunikation oder in Verträgen nicht mehr ausschließlich die männliche Form benutzt werden darf.

Deutsche Presse-Agentur (dpa) setzt auf sprachliche Alternativen

Deutschlands wichtigste Nachrichtenagentur dpa arbeitet ebenfalls nicht mit Genderstern, Binnen-I oder anderen Kennzeichen. „Aber alle dpa-Kolleginnen und -Kollegen sind zu besonderer Sprachsensibilität aufgerufen: Wir wollen jenen Spielraum für Gendergerechtigkeit nutzen, den uns die Sprache auch ohne besondere Schreibweisen schon jetzt lässt“, so dpa-Kommunikationschef Jens Petersen. Dazu bedient sich die dpa „sprachlicher Alternativen zum generischen Maskulinum".

Wie Nachrichtenagenturen mit der Genderfrage umgehen

AFP, APA, dpa, epd, Keystone-sda, KNA, Reuters und SID haben vereinbart, diskriminierungssensibler zu arbeiten. Hierbei soll das generische Maskulinum schrittweise zurückgedrängt werden. „Ob die Nachrichtenagenturen in einigen Jahren ganz darauf verzichten können, hängt von der weiteren Entwicklung der Sprache ab“, so das gemeinsame Papier der Agenturen vom 21. Juni 2021. Die dpa versucht in ihren Diensten zunächst sprachliche Alternativen zu wählen.

Wir dokumentieren einige Beispiele:

  • Doppelformen/Paarformen: Schülerinnen und Schüler, Beamtinnen und Beamte, Schurkinnen und Schurken
  • Geschlechtsneutrale Pluralformes: die Feuerwehrleute, die Angestellten, die Pflegekräfte, die Fachkräfte, die Lehrkräfte
  • Plural statt Singular: alle, die... (statt: jeder, der…)
  • Substantivierte Partizipien: die Studierenden, die Arbeitenden
  • Sache/Gremium statt Person: der Arbeitskreis, die Redaktion, die Belegschaft
  • Neutrale Funktionsbezeichnung: Vorsitz, Leitung, Personalvertretung, Direktion, Team
  • Syntaktische Lösungen: Statt „Raucher haben eine kürzere Lebenserwartung“ jetzt „Wer raucht, hat eine kürzere Lebenserwartung“ oder statt „Herausgeber“ jetzt „herausgegeben“, statt „der Rat des Arztes“ jetzt „der ärztliche Rat“.

Bei Zitaten in dpa-Meldungen, deren wörtliche Wiedergabe für die Berichterstattung von großer Bedeutung ist, bleiben Gendersternchen oder ähnliche besondere Schreibweisen aber erhalten. Die Agentur verweist dann bei „Redaktionelle Hinweise“ unter der Meldung darauf, dass die besondere Schreibweise so im Original stand. Zur Begründung heißt es, als Dienstleister für andere Medien könne die dpa „einen grundsätzlichen Wandel der Sprachpraxis – der derzeit weder dem allgemeinen Sprachgebrauch noch der gültigen Rechtschreibung entspräche – nicht im Alleingang vollziehen und allen unseren Kunden vorsetzen“, so Petersen.

ZEIT und Spiegel erlauben kreative Lösungen

Noch etwas salomonischer verhalten sich die ZEIT und Spiegel. „Eine kreative Form der gendergerechten Sprache in der ZEIT ist erwünscht und erlaubt, aber nicht verpflichtend“, heißt es in einem im April 2021 veröffentlichten Papier. „Sie bemüht sich um gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern in den publizierten Texten. Gleichzeitig versucht sie, Fragen von Lesbarkeit, Schönheit, Tradition und Effizienz zu berücksichtigen. Das Dritte Geschlecht wird nicht eigens berücksichtigt. Damit vermeiden wir umstrittene, zudem unschöne und den Lesefluss störende Formen.“

Eine kreative Form der gendergerechten Sprache in der ZEIT ist erwünscht und erlaubt, aber nicht verpflichtend.

zitiert aus einem internen Papier, April 2021

Man würde darüber hinaus beim generischen Maskulinum („Lehrer“) einmal beide Formen, danach abwechselnd den weiblichen und männlichen Plural verwenden. Den Autorinnen und Autoren stünde es dabei frei, „kreative Lösungen zu finden, die die gewohnte Schönheit und Lesbarkeit unserer Texte nicht beeinträchtigen. Es muss auch gar nicht oder nicht an jeder denkbaren Stelle gegendert werden. Dies wird zu einer gewissen Uneinheitlichkeit der Texte führen, die wir akzeptieren.“ Denn die gesellschaftliche Debatte, sei „im steten Fluss“.

Das gilt genauso für die eigenen Empfindungen: Manche (nicht alle!) nicht-binäre oder intergeschlechtliche Menschen möchten durch ein Sternchen repräsentiert werden, weil sie Sterne mit ihren vielen Zacken als Symbol für Vielfalt lesen. Das gleiche Argument könnte man aber beim Gender-Doppelpunkt genauso geltend machen – wäre ein Punkt, also ein kleiner Kreis, nicht auch ein hervorragendes Zeichen für Integration, und das eben gleich auch noch doppelt?

Beim Spiegel gelten aktuell Regeln, die aus dem Februar 2020 stammen und denen der ZEIT ähneln: „Das generische Maskulinum soll nicht mehr Standard sein. Alle streben an, in ihren Texten beide Geschlechter abzubilden. (…) Oft lassen sich Sätze so formulieren, dass gar keine Wörter vorkommen, die eindeutig Männer oder Frauen bezeichnen (Studierende statt Studenten, Lehrkräfte statt Lehrer et cetera).“ Es werde aber gerade an einer neuen Richtlinie in Sachen gendergerechte Sprache gearbeitet, so der Spiegel.

Barrierefreiheit bevorzugt den Doppelpunkt

Für eine potentiell als gendergerecht empfundene Schriftsprache sollte jedoch – neben Geschmacksvorlieben – auch Barrierefreiheit eine Rolle spielen. So werden Satz- und Sonderzeichen von Screenreadern für blinde und sehbehinderte Leserinnen und Leser unterschiedlich behandelt, teilweise wird das Sonderzeichen unterdrückt, was dem „Glottisschlag“ nahekommt.

Der Glottisschlag

Als „Glottisschlag“ oder auch „stimmloser glottaler Plosiv“ wird im Deutschen die kleine Verzögerung bezeichnet, die durch die plötzliche, stimmlose Lösung eines Verschlusses der Stimmlippen entsteht. Eine andere Bezeichnung ist „Knacklaut“, auch wenn er im heutigen Sprachgebrauch nahezu geräuschlos daher kommt. Wikipedia nennt als Beispiele die Verzögerung zwischen dem „be“ und dem „achten“ bei „beachten“ oder die akustischen Lücken im Wort „Spiegelei“ oder „Verein“. In der gendersensiblen Sprechsprache werden so Gender-Stern, -Unterstrich und -Doppelpunkt ins Hörbare übertragen.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband schreibt auf seiner Homepage, „dass es aktuell keine einheitliche Gendervariante gibt, auf die sich Personen, die vorlesen, und die Hersteller von Computerprogrammen einstellen könnten.“ Sonderzeichen, heißt es weiter, müssen in Brailleschrift durch spezielle Ankündigungszeichen als solche gekennzeichnet werden, „was den Lesefluss behindert“.

Und schon ist man – trotz hehrer Absichten und der Grundidee der gerechteren, inklusiveren Gesellschaft – wieder bei deren Hindernissen.

ZDF heute: Gewöhnung setzt ein

Doch der Mensch liest nicht nur, sondern spricht – und hört – zumeist auch. Als die ZDF-heute-Moderatorin Petra Gerster im Herbst 2020 begann, durch „Glottisschlag“ und ein angefügtes „innen“ das Gendern in eine öffentlich-rechtliche Hauptnachrichtensendung zu katapultieren, stöhnte es in Deutschland (glottisschlagkräftig) „Oh!“

Mittlerweile sind die Beschwerden pro Sendung nur noch im einstelligen Bereich.

Petra Gerster | ehemalige ZDF-Fernsehmoderatorin

Gerster berichtete über wütende Reaktionen, im Januar 2021 erzählte sie in einem Interview mit der taz jedoch, dass langsam Gewöhnung einsetze: „Mittlerweile sind die Beschwerden pro Sendung nur noch im einstelligen Bereich“. Überhaupt sollte man ihrer Ansicht nach nicht „aus Prinzip“ gendern, sondern „kontextabhängig und sensibel“. So lange es also tatsächlich viel mehr männliche pädophile Täter gibt als weibliche Bauarbeiterinnen, kann man sich in diesen Fällen das Gendern sparen.

Gersters Ex-Arbeitgeber (die Journalistin schied im Mai aus dem heute-Dienst in Richtung Ruhestand aus, ihr Kollege Claus Kleber, ebenfalls ein Freund des Genderns, folgte ein paar Monate später) lässt dabei größtmögliche Freiheit: „Das ZDF teilt das Anliegen einer geschlechtergerechten Ansprache. Es steht Redaktionen sowie Moderatorinnen und Moderatoren frei, dafür sprachliche Mittel zu finden. Es gibt keine Vorgabe, in ZDF-Sendungen zu gendern – auch das steht Redaktionen sowie Moderatorinnen und Moderatoren frei“, heißt es aus dem Mainzer Sender.

ARD will alle ansprechen

Die ARD hingegen beobachtet vorsichtig noch etwas das „allgemeine Sprachgefühl“, und verweist darauf, dass sich auch das Publikum bislang keinesfalls einhellig äußert: „Grundsätzlich bemühen wir uns in allen Sendungen des Ersten um eine geschlechtergerechte Sprache, von der sich möglichst alle Zuschauerinnen und Zuschauer angesprochen fühlen können. In den Nachrichtensendungen von ARD aktuell wird der Genderstern nicht mitgesprochen, weil er unserem Eindruck nach derzeit nicht dem allgemeinen Sprachgefühl entspricht“, heißt es aus der ARD-Presseabteilung.

Das bestätigen Umfragen: Eine Mehrheit der Deutschen scheint das Gendern abzulehnen – feste Vorschriften (die bislang, siehe oben, eh niemand fordert) sind also Quatsch. Aber zum Glück gibt es eine schlichte und effektive Lösung: Wenn alle in sich den Großmut suchen und finden könnten, das Gegenüber so sprechen und schreiben zu lassen, wie es möchte. Und sich, anstatt „Sprachdiktatur“ und „Unlesbarkeit“ zu nölen, über mehr hübsche Sternchen freuen würde. Überhaupt: Kann ein „innen“ Sünde sein?!

Die Regeln des MDR

Beim MDR regelt ein „Leitfaden für einen diskriminierungsfreien und geschlechtergerechten Sprachgebrauch im Mitteldeutschen Rundfunk“ das Thema. Das Papier verweist darauf, dass die Sprache stetigem Wandel unterzogen ist und durch die Sprache in Programmen und auf Webseiten niemand diskriminiert werden soll. Gender-Sternchen, Binnen-I oder andere Sonderschreibweisen aber hat das Direktorium abgelehnt. Hier wartet das Leitungsgremium die Einschätzung und Empfehlungen des Rats der Deutschen Sprache ab.
Bis dahin gilt der Dreiklang „Eindeutigkeit“ (es geht klar hervor, wer gemeint ist), „Repräsentation“ (alle finden sich wieder) und „Anti-Diskriminierung“ (Wertschätzung aller) – ähnlich den Regelungen, wie ZEIT und Spiegel sie aktuell gewählt haben. Grundsätzlich empfiehlt der MDR-Leitfaden den Mitarbeitenden, nach kreativen Lösungen zu suchen und die alleinige Verwendung des generischen Maskulinum zu vermeiden.

*Hinweis: Jenni Zylka arbeitet als freie Journalistin für verschiedene Medien, die in diesem Text erwähnt sind, u.a. die taz. Auch Steffen Grimberg ist als freier Autor für die taz tätig.