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Bildrechte: MDR/Tanja Schnitzler, picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Unter der Lupe – die politische KolumneFür mehr Verfassungspatriotismus

26. Mai 2024, 13:57 Uhr

75 Jahre Grundgesetz, 35 Jahre Friedliche Revolution – zwei mehr als gute Gründe zu feiern. Verfassungspatriotismus klingt sperrig, lohnt sich aber. Gerade in Zeiten, in denen die Demokratie von innen und außen immer mehr unter Druck gerät. Der Bundespräsident hat recht, wenn er sagt: wir leben in einer Zeit der Selbstbehauptung.

Torben Lehning stammt aus Kassel und berichtet mittlerweile für den MDR aus Berlin. Bildrechte: MDR/Tanja Schnitzler

Krieg in der Ukraine, Krieg in Israel, kaum ist Corona vorbei, wollen die Lebensmittelpreise nicht mehr sinken, Dauerkrach in der Koalition, Reichsbürger bezweifeln, dass Deutschland überhaupt eine Verfassung hat und schmieden Pläne, die Demokratie zu zerstören und im Osten der Bundesrepublik führt eine Partei die Umfragen an, die selbst den rechts-nationalen Partnern der EU zu extrem ist.

Partystimmung will gerade nicht so richtig aufkommen in Deutschland. Dabei gibt es einiges zu feiern. 75 Jahre Grundgesetz, 35 Jahre friedliche Revolution, bedeuten Frieden und Freiheit für ein ungeteiltes Deutschland. Da können wir uns alle gegenseitig gratulieren. Na los, der Appetit kommt beim Essen. Und wenn wir schon nicht das Grundgesetz feiern, dann sollten wir wenigstens darüber reden.

Die verpasste Chance

Und so ein Jubiläum bietet reichlich Anlass, kritisch auf die eigene Geschichte zu schauen. Dass zwei lange voneinander getrennte Landesteile eine gemeinsame Verfassung haben, ist alles andere als selbstverständlich. Darüber hinaus war die Übernahme des BRD-Grundgesetzes für das wiedervereinigte Deutschland nicht zwingend.

So gab es konkrete Pläne, eine neue, gemeinsame Verfassung zu schreiben. Volkskammermitglieder und Bürgerrechtler hatten gute Ideen: ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf Wohnen. Beides fehlt in unserem heutigen Grundgesetz. Die Mehrheit wollte eine schnelle Wiedervereinigung, die BRD hatte wenig Interesse daran, ihr Grundgesetz neu aufzusetzen. Also übernahm der Osten das Grundgesetz des Westens.

Für die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und heutige Vize-Bundestagspräsidentin Katrin Göring-Eckhardt (B‘90/Grüne) ist das eine verpasste Chance. Und dennoch hätten auch Ostdeutsche jeden Grund, stolz darauf zu sein, vieles von dem erreicht zu haben, wofür sie '89 auf die Straße gegangen seien, so Göring-Eckhardt.

Zeit der Selbstbehauptung

Doch all das, was sich die Demonstranten der friedlichen Revolution erstritten, ist kein Selbstläufer. In seiner Festrede zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes lässt Bundespräsident Steinmeier keinen Zweifel daran, dass das Grundgesetz ohne Demokraten nicht überlebensfähig ist.

"Wir leben in einer Zeit der Selbstbehauptung", erklärt das Staatsoberhaupt und verweist auf innere und äußere Feinde der Demokratie, die diese vernichtet sehen wollen. Angesichts dieser Herausforderung dürfe Rückzug keine Alternative sein, so Steinmeier. Weiter führt er aus: "Wir leben in einer Zeit der Bewährung".

Ohne Verfassung ist alles Mist

Manch einem mag das etwas zu fatalistisch klingen. Nicht alle Probleme der Bundesrepublik lassen sich auf den Konflikt Demokraten gegen Verfassungsfeinde herunterbrechen, erklären manche. Das stimmt. Ich denke aber: Steinmeier hat recht. Denn egal ob Gewalt gegen Politiker, Demonstranten oder Ehrenamtliche, ohne unsere Verfassung und Menschen, die sich für ein streitbares Miteinander einsetzen, ist alles Mist.

Mehr Verfassungspatriotismus wagen

Ich bin nicht stolz darauf, Deutscher zu sein. Ich habe herzlich wenig dafür getan, Deutscher zu sein. Warum sollte ich mich damit also brüsten? Ich sehe keinen Grund dafür. Doch wie sieht es mit dem Grundgesetz aus? Auch an der Verfassung habe ich nicht mitgeschrieben. Warum also stolz auf sie sein?

Weil wir eben jeden Tag mitwirken müssen und das oft nicht einfach ist. Das Grundgesetz ist kein Dekret, das für Frieden und Freiheit sorgt. Es ist eine Anleitung, die zum Mitmachen auffordert. Und jeder, der mitmacht, diese Verfassung, diese Demokratie zu leben und zu verteidigen, darf sich gerne mal auf die Schulter klopfen. 

Machen, was nervt

Dazu gehört nicht nur ein schillernder "Sommer der Demokratie" mit Festen, Konzerten und Empfängen. Dazu gehört auch, Meinungen auszuhalten, die man nicht nachvollziehen kann; Kompromisse zu akzeptieren, die einem nicht gefallen; dem aktuellen Tagesgeschehen zu folgen, auch wenn es an den Kräften zehrt; anderen zuzuhören, obwohl sie Positionen vertreten, die man nicht teilt; und Demokratiefeinde in die Schranken zu weisen.

Das macht man alles vielleicht nicht nur unbedingt, weil man stolz auf die Verfassung ist. Vielleicht aber, weil man für ihre Werte einsteht. Verfassungspatriotismus eben. Wenn wir das alle miteinander hinbekommen, dann haben Anti-Demokraten keine Chance.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 23. Mai 2024 | 19:30 Uhr