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Menschen mit Übergewicht oder Adipositas werden stigmatisiert. Sie gelten als faul, ungepflegt, unsexy – dabei können sie alles mögliche sein: zum Beispiel erfolgreich, attraktiv und begehrt. Woher kommen die Vorurteile? Bildrechte: imago images/Westend61

StigmatisierungFat-Shaming: "Man denkt, erst wenn man dünn ist, fängt das Leben an"

08. Oktober 2020, 06:51 Uhr

Menschen mit "mehr auf den Rippen" werden nicht nur im Alltag angestarrt oder ausgelacht, sie werden diskriminiert. Zum Beispiel beim Arztbesuch, bei der Jobsuche oder innerhalb der Familie. Der jährliche Adipositaskongress, der dieses Jahr in Leipzig stattfindet, widmet sich diesem Aspekt von Übergewicht: der Stigmatisierung. Betroffene, vor allem junge Frauen, tauschen sich mittlerweile bei Instagram über ihre Stigma-Erfahrungen aus.

von Nastassja von der Weiden, MDR AKTUELL

Übergewichtige und Adipöse kämpfen nicht nur gegen ihre Kilos, sondern auch gegen eine Reihe von Vorurteilen. Sie erfahren dabei Mobbing, Ablehnung auf vielen Ebenen und haben sogar weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt – denn sie würden zu viel essen und sich zu wenig bewegen, seien ungesund, faul und unästhetisch. All das wird Übergewichtigen nachgesagt.

StigmatisierungStigmatisierung ist die Zuschreibung einer meist negativen Eigenschaft. Menschen mit Adipositas wird zum Beispiel zugeschrieben, sie seien faul, willensschwach, undiszipliniert und "selbst Schuld" an ihrem Übergewicht.

Hartnäckig hält sich das Vorurteil, Übergewichtige seien "selbst Schuld" an ihren zusätzlichen Pfunden. Auch mitunter von Ärzten, Ärztinnen und Pflegepersonal wird diese Meinung geteilt. Dabei sind fast alle Schuldzuweisungen, die dicke Menschen für ihr Gewicht bekommen, längst verhaltenspsychologisch und neurobiologisch widerlegt oder neu bewertet. Denn es kommen viele Faktoren zusammen, die Adipositas begünstigen oder auslösen können.

Fat Shaming begegnet Adipösen überall: im Alltag, auf der Arbeit und beim Arzt. Bildrechte: IMAGO

Stigmatisierung beim Arzt

Auch Medizinerinnen und Mediziner haben Vorurteile. Ein Beispiel für "Fat-Shaming" ist daher die Stigmatisierung beim Arzt. Eine Erfahrung, die auch Anna Kumher machen musste. Sie ist Sozialarbeiterin, lebt seit drei Jahren in Leipzig und betreibt den Instagram-Kanal "wenigstenseinhuebschesgesicht" mit über 8.000 Followern.

Die 33-Jährige erinnert sich noch genau an eine Situation bei ihrer Hausärztin: "Ich bin ins Zimmer der Ärztin gegangen und noch bevor ich die Tür hinter mir schließen konnte, fragte sie mich: 'Sie sind wegen ihrem Übergewicht hier, oder?' Dabei war ich erkältet und brauchte eine Krankschreibung." Man werde diskriminiert, obwohl man Hilfe brauche, sagt sie.

Forum, Austausch und Empowerment bei Instagram

Mit dieser Erfahrung ist sie nicht alleine. Das weiß sie nicht erst, seit sie ihre Instagramseite mit Berichten von Betroffenen füllt. Der Austausch darüber, wie sich Menschen fühlen, wenn sie – wegen ihres Gewichts – verurteilt, gekränkt oder ausgelacht werden, ist für ihre Follower sehr wichtig. Viele von ihnen bedanken sich dafür, dass das Thema "Fat-Shaming" Aufmerksamkeit bekommt und ihre Erfahrungen ernst genommen werden.

Berichte, wie Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde mit Übergewichtigen umgehen, liest man haufenweise auf Kumhers Instagramseite. Zum Beispiel von einem Vater, der sein Kind bei jedem Essen so ärgert und kränkt, dass es nur noch alleine isst. Aber auch Mobbing und Beleidigungen von Mitschülerinnen und -schülern, Fremden, den Großeltern oder von einem Mann, der mit Kommentaren wie "Ich frage mich, wie du wohl mit 20 Kilo weniger aussehen würdest" für das Gefühl sorgt, ungewollt zu sein.

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Diese Geschichten, die als pastellfarbene Kacheln geteilt und hundertfach geliket werden, berühren diejenigen, die sie lesen. Egal, ob sie selbst betroffen sind oder nicht: "Auch Normalgewichtige, schlanke Personen schreiben mir. Zum Beispiel, dass sie dank meiner Seite ihre Privilegien reflektiert haben und merken, mit welchen Aussagen sie andere Menschen verletzt haben", sagt Kumher.

Genau das motiviert sie, die Seite weiterzubetreiben: "Es sind so viele Leute, die das Thema betrifft, ich werde täglich mit Nachrichten bombardiert. Man denkt, erst wenn man dünn ist, fängt das Leben an. Das ist aber überhaupt nicht so, Körper sind einfach verschieden. Und das muss dringend sichtbar gemacht werden."

Stigmatisierung wird täglich erlebt

Auch auf dem Adipositaskongress in Leipzig, der ab Donnerstag unter dem Motto "facettenreiche Adipositas braucht vielfältige Ansätze" drei Tage lang am Zoo stattfindet, wird Stigmatisierung ein Thema sein.

Dazu forscht Anja Hilbert von der Universität Leipzig. Sie ist Professorin für Verhaltensmedizin und seit 2011 stellvertretende Leiterin des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) für Adipositas-Erkrankungen in Leipzig und eine der Rednerinnen auf dem Kongress.

Alle Menschen mit Adipositas erleben Stigmatisierung. Wenn man sich Studien dazu anschaut, passiert ihnen das drei bis vier Mal am Tag.

Prof. Dr. Anja Hilbert

Ausgrenzung beginnt im Kindesalter

Soziale Ausgrenzung und Mobbing von Übergewichtigen seien Phänomene, die schon im frühen Kindesalter beginnen, sagt Hilbert: "Kinder im Vorschulalter wissen schon, dass Dick sein etwas Verwerfliches ist. Wenn ihnen Bilder gezeigt werden, von normalgewichtigen, übergewichtigen und Kindern mit Behinderungen, dann sind übergewichtige Kinder diejenigen, die am wenigsten gerne zum Spielen ausgewählt werden."

Und das setze sich in allen Kontexten des Lebens fort: in der Schule, Ausbildung, Beruf, in zwischenmenschlichen Beziehungen, bei der Partnerwahl, Wohnungssuche, im Gesundheitswesen, im Verkehr und – ganz wichtig – in den Medien.

Herablassende Kommentare, Blicke und die ständige Ablehnung wirken sich auch auf das Selbstbewusstsein aus. Menschen mit starkem Übergewicht sehen sich zum Beispiel selbst als hässlich(er) und ungewollt an, sie schämen sich. Ihre Psyche leidet, sie werden traurig, kapseln sich ab und trösten sich teilweise mit Essen. Ein Teufelskreis.

AdipositasAdipositas, also starkes Übergewicht, ist ein gesellschaftliches Dauerthema. Über die Stigmatisierung derer, die durch ihr (starkes) Übergewicht aus der (vermeintlich) körperlichen Norm fallen, wird dagegen wenig gesprochen. Als übergewichtig gilt, wer einen Body-Mass-Index (BMI) über 25 (kg/m²) hat. Wer stark übergewichtig ist, wird als adipös bezeichnet. Hier liegt der BMI über 30. Adipositas wird oft als Krankheit angesehen. Richtig ist, dass Adipositas in Verbindung mit Folgeerkrankungen wie Diabetes (mellitus Typ 2), Herzleiden oder Bluthochdruck steht. Aber nicht jeder Mensch mit Übergewicht oder Adipositas ist psychisch oder physisch krank.

Dieses Thema im Programm:Das Erste | BRISANT | 04. Februar 2020 | 17:15 Uhr