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Interview mit Wirtschaftsexperte"Erwerbsmigration aus den Drittstaaten steht noch nicht dort, wo sie sein sollte"

04. Mai 2024, 05:00 Uhr

Der Fachkräftemangel belastet die Wirtschaft immer mehr. Erwerbsmigration sei nicht nur hier stabilisierend nötig, sondern auch für die Sozialsysteme, betont Wirtschaftsexperte und Migrationsforscher Professor Herbert Brücker. Er ist Leiter des Forschungsbereichs "Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung" am IAB und Direktor des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BIM).

von Redaktion Wirtschaft und Ratgeber

Wie hoch ist der Fachkräftemangel aus Sicht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB in Deutschland?

Wir haben durch den demografischen Wandel in Deutschland einen auch im Vergleich mit anderen OECD-Staaten hohen Fachkräftebedarf. Wir verlieren jedes Jahr etwa 400.000 Arbeitskräfte im erwerbsfähigen Alter, weil sehr viel mehr Menschen in Rente gehen als ihre Ausbildung beenden. Das müssen wir durch Einwanderung kompensieren. Weil die Lebenserwartung steigt und die Bevölkerung altert, haben wir immer mehr Menschen im Rentenalter.

Um die Rentenversicherungssysteme und die Sozialversicherungssysteme zu stabilisieren, brauchen wir eine Nettoeinwanderung, die deutlich höher ist als die 400.000 Personen pro Jahr, die nötig sind, um das Arbeitsangebot konstant zu halten. Besser wären etwa 500.000 Menschen. Ohne Migration würden Volkswirtschaft und Sozialsysteme in eine Krise stürzen: In einem solchen Szenario würde das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035 um etwa 7,5 Millionen Arbeitskräfte sinken, bis 2060 um rund 35 Prozent und bis 2070 um knapp 40 Prozent – im Vergleich zum gegenwärtigen Niveau.

Welche regionalen Besonderheiten zeigt der Fachkräftebedarf in Mitteldeutschland?

Wir haben in Ostdeutschland im Durchschnitt weniger Migration als in den westlichen Landesteilen. Das hängt wesentlich an ökonomischen Faktoren, weil durch die wirtschaftliche Entwicklung zum Beispiel die Löhne in Westdeutschland noch immer etwas höher sind. Aber es liegt möglicherweise auch an politischen Faktoren. Wir wissen aus Befragungen, dass die Willkommenskultur und Akzeptanz der Einwanderung für die Wahl des Wohn- und Arbeitsorts eine wichtige Rolle spielen.

Professor Herbert Brücker ist Migrationsforscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Bildrechte: Wolfram Murr/Photofabrik

Regional gibt es ein Stadt-Land-Gefälle – in Ostdeutschland, aber auch in Westdeutschland. Migrantinnen und Migranten gehen gern in Städte und ihr Umland. In prosperierenden Ballungsräumen funktioniert es ganz gut, wenn wir etwa über Leipzig oder Dresden reden. Dort haben wir weniger Probleme als in den ländlichen Räumen oder in Regionen, die negativ vom Strukturwandel betroffen sind. Zum Beispiel in Gebieten, die früher einmal Industrieregion waren, in denen aber sehr viele Arbeitsplätze weggebrochen sind. Dort haben wir wenig Einwanderung. Diese Regionen sind dann auch die Verlierer des demografischen Wandels.

Die größeren Städte werden also wahrscheinlich gewinnen, aber die ländlichen Regionen und strukturschwache Regionen verlieren. Migration verstärkt diese Tendenzen. Menschen gehen eher dahin, wo es prosperiert und dadurch steigt das Stadt-Land-Gefälle oder auch das Gefälle zwischen reicheren und ärmeren Regionen in Deutschland.

Wie fällt aus Ihrer Sicht die Bilanz der EU- Osterweiterung aus? Sie war ja vor 20 Jahren von Befürchtungen begleitet, dass eine Erweiterung negative Effekte auf den deutschen Arbeitsmarkt haben könnte.

Sie haben sich nicht bewahrheitet. Heute arbeiten 1,7 Millionen Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU in Deutschland. Wir haben relativ geringe Arbeitslosenquoten unter diesen Menschen, auch die Leistungsbezugsquoten sind relativ gering. Sie haben sich insgesamt sehr gut in den Arbeitsmarkt integriert. Wir haben zudem sehr wenige Menschen im Rentenalter. Die Bevölkerung aus den neuen Mitgliedsstaaten trägt damit sehr stark zu den Sozialversicherungssystemen bei. Die Ängste, die es damals gab, dass es durch die Osterweiterung mehr Arbeitslosigkeit gibt und dass der Sozialstaat belastet wird, sind nicht eingetreten. Wir blicken auf ein Jahrzehnt zurück, in dem die Arbeitslosigkeit stark gesunken ist. Die Einwanderung von Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern nach Deutschland fällt mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit zusammen. Wir hätten das wirtschaftliche Wachstum im letzten Jahrzehnt ohne die EU-Osterweiterung nicht in diesem Umfang gehabt: Etwa ein Drittel dieses Wachstums wäre ohne den Anstieg des Arbeitsvolumens, der durch die Osterweiterung ausgelöst wurde, nicht möglich gewesen. Diese Menschen zahlen hier auch Steuern und Abgaben. Die Lage der öffentlichen Finanzen sähe deshalb ohne die Osterweiterung sehr viel schlechter aus.

Unternehmen in Mitteldeutschland schildern, dass sie nach der EU-Osterweiterung neue Mitarbeitende aus den Beitrittsländern gewinnen konnten. Heute sei dies in diesem Umfang nicht mehr der Fall. Welche Ursachen gibt es dafür?

Im letzten Jahrzehnt gab es eine sehr starke Nettoeinwanderung und ein entsprechendes Beschäftigungswachstum aus den neuen Mitgliedsstaaten. Etwa die Hälfte der Zuzüge im letzten Jahrzehnt entfiel auf die EU, nur 15 Prozent auf die Fluchtmigration. 2015 erreichte nicht nur die Fluchtmigration, sondern auch die Migration aus der EU ihren vorläufigen Höhepunkt. Der Beitrag der neuen Mitgliedsstaaten am Migrationsgeschehen in Deutschland wird in der öffentlichen Diskussion häufig unterschätzt.

Aber jetzt geht die Einwanderung aus der Europäischen Union stark zurück. Wir haben jetzt noch ein Drittel des Niveaus von 2015 und ich erwarte, dass die Nettomigration aus dieser Region zum Ende dieses Jahrzehnts auf Null sinken wird. Das hat zwei Gründe: Zum einen sind die meisten jungen migrationsbereiten Menschen schon weg. Das Migrationspotenzial ist dadurch schon stark ausgeschöpft. Zum anderen ist die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern sehr günstig. Die Arbeitsmarktlage ist sehr gut. Die Einkommen konvergieren. Damit sinken die Wanderungsanreize. Diese Faktoren führen dazu, dass wir uns künftig darauf einstellen müssen, dass wir aus dieser Region keine Nettoeinwanderung mehr haben werden.

Ihr Institut erstellt einen aktuellen Zuwanderungsmonitor. Wie entwickelt sich die Zuwanderung aus Drittstaaten?

Die Zuzüge aus Drittstaaten haben im vergangenen Jahrzehnt rund die Hälfte aller Zuzüge ausgemacht. Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist der Anteil zu Beginn dieses Jahrzehnts deutlich gestiegen. Die Fluchtmigration wird jetzt voraussichtlich wieder deutlich zurückgehen. Aber ich rechne damit, dass in diesem Jahrzehnt zwischen 60 und 70 Prozent der Migration auf Drittstaaten entfallen wird. Diese Menschen kommen auf verschiedenen Kanälen. Wir alle haben vor allem die Fluchtmigration im Auge. Aber die Mehrheit wird auf anderen Wegen kommen. Es gibt noch Familiennachzug. Auch die Bildungsmigration spielt eine große Rolle. Weltweit ist Deutschland nach den USA auf Platz zwei der Länder, die die meiste Zuwanderung zu Bildungszwecken haben.

Knapp ein Zehntel der Menschen aus Drittstaaten kommt über die Zuzugskanäle, die für die Arbeitsmigration vorgesehen sind. Das hat sich im letzten Jahr etwas günstiger entwickelt und ist gestiegen. Aber wir reden über eine Größenordnung von 100.000 Menschen bei insgesamt 1,6 Millionen Zuzügen in einem durchschnittlichen Jahr. Hier gibt es noch sehr viel Luft nach oben. Die Erwerbsmigration aus den Drittstaaten steht noch nicht dort, wo sie sein sollte.

Eine erneute Erweiterung der EU ist im Gespräch. Welche Effekte könnte das für den Fachkräftebedarf in Deutschland haben?

Man muss die politische Dimension von der ökonomischen unterscheiden. Aus ökonomischer Perspektive wäre das natürlich sinnvoll. Die Integration dieser Länder in den gemeinsamen Binnenmarkt der EU, also die Öffnung der Märkte für den Handel von Gütern und Dienstleistungen, Kapitalverkehr und Arbeitsmigration, würden Wachstum und Wohlstand erhöhen. Davon entfallen die größten Wirkungen auf die Migration. Wir haben schon jetzt mit der Westbalkanregelung den Arbeitsmarkt stark geöffnet. Aber wir würden noch sehr viel stärker profitieren, wenn es die Freizügigkeit gebe. Die Erfahrungen mit der Westbalkanregelung zeigen, dass sich diese Menschen sehr gut in den Arbeitsmarkt integrieren. Das wäre wirtschaftlich absolut eine Gewinnsituation. Wir brauchen diese Menschen.

Politisch ist es ein bisschen anders. Es könnte sein, dass die Konflikte zunehmen und die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union schwieriger werden. Das könnte dann indirekt wiederum negative wirtschaftliche Auswirkungen haben und muss deshalb gut überlegt sein. Aber ich würde schon vor einer weiteren EU-Osterweiterung den Arbeitsmarkt weitgehend öffnen. Ich würde den Wirtschaftsraum wirtschaftlich stärker integrieren durch Handel, durch Kapitalverkehr, aber eben auch durch die Mobilität von Arbeit.

Zur PersonProf. Dr. Herbert Brücker ist seit 2005 Leiter des Forschungsbereichs "Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung" am IAB und seit 2018 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort ist er zugleich Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Seine Forschungsinteressen liegen auf den Gebieten der internationalen Migration, der Integration von Migrantinnen und Migranten, der Europäischen Integration, der Arbeitsmarktforschung und angewandten empirischen Methoden (Quelle: IAB)

MDR (cbr)

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