Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben
Erst günstig bauen, später ordentlich Gewinn erzielen - so sollte es nicht laufen, findet Nikta Vahid-Moghtada. Bildrechte: MDR/Markus Geuther/dpa

KommentarSoziale Bindung beim Wohnraum muss dauerhaft bleiben

24. Mai 2023, 11:27 Uhr

Wer in Deutschland sozialen Wohnraum baut, muss diesen nicht dauerhaft erhalten: Ist der Neubau ausfinanziert, können Investoren problemlos luxussanieren - während Sozialwohnungen in Deutschland immer knapper werden. Dass es auch anders geht, zeigen Städte wie Wien.

Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Ein Investor, nennen wir ihn Günther, will ein Wohnhaus bauen, in einer x-beliebigen Stadt, die Leipzig, Erfurt, Berlin oder Buxtehude sein kann. Günther will sozialen Wohnraum schaffen – denn er hat sich vorher schlau gemacht. Er hat damit Anspruch auf Fördergelder. Und um diese Fördergelder zu erhalten, muss Günther zusichern, die Wohnungen, die er baut, auch wirklich als Sozialwohnungen zu vermieten. Mindestens 15 Jahre lang, manchmal auch 20 – je nach Förderprogramm. Das ist erstmal ganz schön. Aber: Nach Ablauf dieser Frist kann Günther die Wohnungen modernisieren und als Luxusbuden weiter vermieten. Und das ist dann völlig okay, weil das System das Ganze erlaubt.

Das führt zu einer gefährlichen Abwärtsspirale, die das Recht auf bezahlbare vier Wände und ein Dach über dem Kopf mehr und mehr zum Privileg werden lässt. Momentan werden so wenige Wohnungen gebaut wie seit Jahren nicht. Die Ampel ist von ihrem Ziel, pro Jahr 400.000 neue Wohnungen aus dem Boden zu stampfen, weit entfernt. Lediglich 295.300 Wohnungen wurden 2022 neu gebaut, das teilte das Statistische Bundesamt noch im Mai mit. Von den ursprünglich 100.000 von der Ampel-Regierung angedachten Sozialwohnungen pro Jahr sind im vergangenen Jahr nur rund 20.000 entstanden. Ein Fünftel des Solls – das ist mehr als nur am Ziel vorbeigeschossen.

Immer mehr Luxusbuden statt bezahlbarer Wohnraum

Auch im laufenden Jahr rechnet die Bauindustrie bestenfalls mit 250.000 fertiggestellten Wohnungen. "Gerade in den Ballungsgebieten und ihrem Umland wird damit die Wohnungsnot zementiert", sagte der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Tim-Oliver Müller, der Deutschen Presse-Agentur. Dabei herrscht Wohnungsnot schon längst.

Eine Studie, die das Verbändebündnis "Soziales Wohnen" beim Pestel-Institut in Hannover und beim Bauforschungsinstitut ARGE in Kiel in Auftrag gegeben hatte, zeigt: Der Wohnungsmangel in Deutschland ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. So hätten zum Jahresende 2022 bundesweit etwa 700.000 Wohnungen gefehlt, vor allem Sozial- und günstige Wohnungen.

Abwärtstrend im Sozialen Wohnbau

Hinsichtlich der rückläufigen Zahl an Baugenehmigungen wird sich dieser Trend in den kommenden Jahren wohl nicht ändern. Gleichzeitig aber fallen immer mehr Sozialwohnungen aus der Bindung. Die Wohnungen, die vor 15, 20 oder 30 Jahren gebaut worden sind, von Investoren wie Günther, die wertvollen Wohnraum, vor allem in Ballungszentren, jetzt luxussanieren.

"Im Kern ist der soziale Wohnungsbau eine Wirtschaftsförderung für private Bauherren mit sozialer Zwischennutzung. Um das auszugleichen, müssten dreimal so viele Sozialwohnungen gebaut werden wie heute", sagte dazu der Sozialforscher und Stadtsoziologe Andrej Holm in einem Gespräch mit der Hans-Boeckler-Stiftung.

Soziale Zwischennutzung, die es Investoren problemlos ermöglicht, günstig zu bauen, um anschließend ordentlich Gewinn zu erzielen. Während in vielen Ecken des Landes bezahlbarer Wohnraum fehlt. Es braucht keine sonderlich ausgeprägte soziale Ader, um zu merken, dass hier etwas ordentlich schief läuft.

Es geht auch anders: Ein Blick nach Wien

Um zu sehen, wie es besser laufen kann, lohnt sich ein Blick in unser Nachbarland Österreich und dessen Hauptstadt Wien. Gut, Österreich ist ein kleines Land und kann schon allein aufgrund der unterschiedlichen Bevölkerungsdichte und -struktur nicht 1:1 mit Deutschland verglichen werden. Aber was in Wien funktioniert, sollte auch in Berlin, Leipzig oder Dresden klappen. Aber die Wiener haben früh angefangen, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen: Der Soziale Wohnungsbau hat in Wien eine rund 100-jährige Tradition. Und im Gegensatz zu anderen Großstädten in Europa hat die Stadt ihren über die Jahre gebauten Wohnungsbestand behalten und nicht an private Investoren verkauft.

Ein kurzer Blick auf einige Zahlen: In der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Wien gibt es 1.800 Gemeindebauten mit rund 220.000 Wohnungen in denen etwa 500.000 Menschen leben. Das ist ein Viertel der Wiener Bevölkerung, die in billigen Wohnungen über alle Stadtviertel verteilt lebt, im Stadtzentrum genauso wie am Stadtrand. Zum Vergleich: In der 3,8-Millionen-Einwohner-Stadt Berlin gibt es rund 96.000 Sozialwohnungen.

Gesetzgebung für bezahlbaren Wohnraum

Auch das Fördersystem in Wien ist ein anderes. Zu den kommunalen Wohnungen kommen noch rund 200.000 dauerhaft gebundene Wohnungen von gemeinnützigen Wohnbauvereinigungen, die beim Bau gefördert wurden und werden. Bis zur Ausfinanzierung unterliegen diese Wohnungen dem sogenannten Wohnbaufördergesetz, das eine günstige Miete vorschreibt. Ähnlich wie in Deutschland auch. Aber eine Sache läuft entscheidend anders: Ist der Kredit abbezahlt, fallen diese Wohnungen nicht aus der sozialen Bindung. Sie fallen unter das "Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz", das auch nach der Ausfinanzierung günstige Mieten vorschreibt. Warum gibt es eine solche Gesetzgebung nicht auch bei uns?

Fehler der Vergangenheit lassen sich nicht wegzaubern

Unterdessen sind hierzulande aus allen Ecke Aufschreie zu hören: Aufschreie vom Mieterbund, der vor stetig steigenden Mieten warnt, Aufschreie des Baugewerbes, das um mehr Fördergelder bettelt, um angesichts der Inflation und steigender Baukosten einem Kollaps zu entkommen.

Auch wenn die Fehler der Vergangenheit – etwa, dass Deutschland es verpasst hat, für ausreichend kommunales Wohneigentum zu sorgen – auf die Schnelle schwer ausgebessert werden können: Ich finde, ein inspirierender Blick ins Nachbarland könnte nicht schaden. Denn: Wird der derzeitige Trend nicht gestoppt, wird er unaufhaltsam dazu führen, dass nicht nur Gering-, sondern auch Normalverdiener immer weiter an die Ränder der Städte und in die Peripherien gedrängt werden – ob sie es wollen, oder nicht. Und wir brauchen bezahlbaren Wohnraum überall: in der Stadt und auf dem Land.

MDR

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 23. Mai 2023 | 07:30 Uhr