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Die Kulturscheune Gassmühle Rotta liegt bei Kemberg im Landkreis Wittenberg. Bildrechte: MDR/Florian Leue

Querschnitt: KulturKulturscheune bringt Ort der Begegnung nach Rotta

29. Juli 2022, 18:46 Uhr

"Querschnitt: Kultur" – MDR SACHSEN-ANHALT und MDR KULTUR erkunden in dieser Woche fünf besondere Kultur-Orte in Sachsen-Anhalt – und erklären, welche Bedeutung sie für die Region haben. Am vierten Tag ihrer Reise waren die Reporter in der Kulturscheune Gassmühle in Rotta – einem kleinen Kultur-Ort, der Woche für Woche Livekonzerte im ländlichen Raum anbietet. Hilft das, den demographischen Wandel wenigstens etwas abzufedern?

Man muss es so ehrlich sagen: Der erste Eindruck könnte besser sein. Wer mit dem Auto nach Rotta fährt, sieht erst einmal nicht viel mehr als eine menschenleere Straße mit vielen Häusern, die in die Jahre gekommen sind. Gut, es gibt da noch das kleine Autohaus. Aber eine Gaststätte oder ein bisschen Leben? Fehlanzeige an diesem Vormittag. So wirkt es jedenfalls für den Ortsfremden.

Irgendwo mittig entlang der Hauptstraße lassen zwei Schilder allerdings erahnen, dass da mehr ist: Die "Sauenanlage Rotta" und ihr Hofladen sind ausgeschildert, Schweinekopf inklusive – und die Gassmühle. Um sie soll es gehen in dieser Geschichte. Und um die Frage, ob ein mit viel Liebe und Leidenschaft betriebener Ort wie die Kulturscheune kleine Orte wie Rotta vorm Aussterben bewahren kann.

Die Kulturscheune Gassmühle in Rotta

Das Ferienhaus Kulturscheune in Rotta bei Kemberg, Landkreis Wittenberg, ist auf dem Gelände der Gassmühle entstanden. Urkundlich erwähnt wurde die Mühle nach Angaben ihrer heutigen Nutzer erstmals im Jahr 1390. Im Jahr 2011 übernahm das Ehepaar Sielaff die Mühle und machte über die Jahre einen Veranstaltungsort aus ihr, in dem Touristen auch übernachten können. Heute gibt es dort ein vielseitiges Programm mit mehreren Konzerten und Lesungen jede Woche.

Dazu sollte man erst einmal wissen, wo man Rotta eigentlich zu verorten hat. Das kleine Örtchen, ein paar Hundert Menschen leben hier, liegt ein paar Kilometer entfernt von Kemberg. Landkreis Wittenberg. Hier im Osten von Sachsen-Anhalt ist die Situation wie überall sonst im Land: Der demographische Wandel ist an allen Ecken spürbar. Menschen ziehen weg, sterben. Zu wenige kommen nach.

Es ist eine Binsenweisheit, dass gerade der ländliche Raum von denen lebt, die ihn gestalten. Die all das nicht einfach hinnehmen – sondern machen. Edelfried Schimmel weiß das zu gut. Der 65-Jährige sitzt an einem Schreibtisch so voll von Aktenordnern und Unterlagen, dass man den Tisch selbst eigentlich gar nicht mehr sieht. "Hier wird gearbeitet", sagt er entschuldigend und lacht. Edelfried Schimmel ist hier der Ortsbürgermeister. Seit 2014 ist er im Amt, in der Gemeindepolitik noch viel länger. Seit 1977, mehr als 40 Jahre.

Zur Person: Edelfried Schimmel

Edelfried Schimmel war zu DDR-Zeiten Lehrer, unter anderem in der Dorfschule in Rotta. Als sein Vater nach einem Verkehrsunfall Probleme hatte, den seit 1860 existierenden Metallbaubetrieb allein weiterzuführen, griff ihm Edelfried Schimmel unter die Arme. Nach der Wende wurde er erst zum Gesellen, 1996 bekam er seinen Meisterbrief und übernahm den Betrieb in fünfter Generation.

1999 eröffnete er zusätzlich einen Weinhandel, mit dem er noch bis diesen Sonntag einen Stand auf dem Wittenberger Weinfest hat. Ende dieses Jahres will Schimmel den Metallbaubetrieb in seiner jetzigen Form aufgeben und als Ein-Mann-Unternehmer weiter Schlüsseldienste anbieten, vom Weinhandel ganz zu schweigen. Seit 2014 ist er Ortsbürgermeister von Rotta.

Nun sitzt er da, nippt an seiner Kaffeetasse und beginnt zu erzählen. Davon, wie viel ihm Kultur bedeute und dass er mit seiner Frau schon früher im Studium immer ins Kulturhaus in Merseburg ging. Dauerkarte. Davon, wie gut er es finde, was da in der Kulturscheune in Rotta inzwischen los sei.

Und auch wenn der viel beschäftigte Mitt-Sechziger einräumt, selbst bislang viel zu selten die Kulturscheune besucht zu haben – dass sie da ist, hält er für wichtig. Schimmel spricht dann von den guten Kritiken, der Wertschätzung für die Sielaffs im Dorf, einem Ort der Begegnung.

Torsten Sielaff würde vieles von dem sicher sofort bestätigen, könnte er die Worte seines Ortsbürgermeisters gerade hören. Doch der 55 Jahre alte Sielaff sitzt ein paar Autominuten entfernt mit seiner Frau Simone beim Frühstück in der Gassmühle. Auf dem Tisch vor den beiden liegt ein voll geschriebener Zettel. Die letzten Vorbereitungen für das zweite Kulturfest der Sielaffs dieses Wochenende laufen. Getränke müssen noch besorgt werden, die Brötchen. Was eben dazu gehört.

Gassmühle in Rotta zum Kultur-Ort gemacht

Simone und Torsten Sielaff haben der Gassmühle am Ortsrand von Rotta neues Leben eingehaucht. Mehr noch: Sie haben einen Kultur-Ort aus ihr gemacht. Mehrmals wöchentlich gibt es hier Lesungen, Filme, Konzerte, alles kostenlos. Nur um Spenden bitten sie. Warum sie keinen Eintritt nehmen? "Um niemanden von vornherein auszuschließen", antwortet das Ehepaar. Torsten Sielaff sagt: "Kultur bringt die Menschen zusammen. Kultur macht diesen Ort zum Ort der Begegnung." Da ist er wieder.

Dass es Orte wie diesen braucht, zumal im ländlichen Raum, ist unstrittig. Auch Ortsbürgermeister Schimmel weiß davon zu berichten. Die Gaststätten hier in Rotta, Reuden und Gniest haben alle schon vor Jahren zugemacht, mit ihnen die Säle, die gerade auf dem Land so lange unverzichtbar waren als Orte der Begegnung. Klar, Menschen wie Edelfried Schimmel geben ihr Bestes, das abzufedern: Der Metallbaumeister, der auch einen Weinhandel besitzt, lädt regelmäßig zu Verkostungen ein. Dann wird sein Garten zum Ort der Begegnung.

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Bevölkerung von Kemberg schrumpft

Über die Probleme, den Wegzug und das Schrumpfen der Bevölkerung täuscht all das aber nicht hinweg, jedenfalls nicht vollständig. Auch die Stadt Kemberg hat in den vergangenen Jahren viele Einwohnerinnen und Einwohner verloren, ein Drittel in den vergangenen 40 Jahren. Dass voriges Jahr mehr Menschen hierher kamen als wegzogen, dürfte mehr Momentaufnahme sein statt eines langfristigen Trends.

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Nimmt man all das zur Grundlage, müssten die Menschen in Rotta den Sielaffs eigentlich zu Füßen liegen, dass sie ein Stück Leben hierher gebracht haben. Beide kommen eigentlich gar nicht von hier. Simone Sielaff stammt aus Wittenberg, ihr Mann Torsten aus Thüringen.

Wissen die Menschen in Rotta zu schätzen, was die Sielaffs hier tun? Es gibt zwei Antworten auf diese Frage. Edelfried Schimmel, der Ortsbürgermeister, spricht, ebenso wie Torsten Sielaff, von einer Wertschätzung für das, was sie hier tun. Und doch grübeln er und seine Frau manchmal. "Es gibt Kemberger, die habe ich noch nie hier gesehen, neulich aber zum selben Konzert in Bad Schmiedeberg", sagt Torsten Sielaff. Seine Frau Simone ergänzt: "Manchmal frage ich mich, ob manche Menschen genervt sind, dass hier jedes Wochenende Musik ist."

Die Sache mit der Wertschätzung

Es ist nicht so, als hätte irgendwer das den Sielaffs so ins Gesicht gesagt. Es ist eher ein Gefühl, das die beiden manchmal haben – obwohl sie am Ende doch glauben, dass ihre Nachbarschaft zufrieden ist, ohne das großartig zu sagen. Ist auch okay, findet Torsten Sielaff. "Wenn es selbst die Offiziellen nicht schaffen, mal ein bisschen Wertschätzung für so viel private Investition in ein Kulturhighlight zu äußern, kann ich das von den normalen Einwohnern nicht verlangen."

Wen er meint? Naja, den Landrat, den Ministerpräsidenten. Die Offiziellen eben. Sie könnten doch auch mal vorbeikommen, findet Sielaff.

Und doch soll hier kein falscher Eindruck entstehen: Simone und Torsten Sielaff sind im Reinen mit sich und dem, was sie hier machen. Mehr noch: Sie wirken zufrieden. Beide lieben die Kultur. Beide sind überzeugt von der Wirkung, die Kultur auf eine Gesellschaft entfalten kann. Dass sie touristisch bedeutend sein kann, muss den Sielaffs niemand erzählen. Aus dem alten Kuhstall hat das Ehepaar nicht nur einen Veranstaltungsort für Lesungen, Konzerte, Kino oder Hochzeiten gemacht, sondern auch zwei Ferienwohnungen, die den Charme des Alten mit dem Modernen verbinden.

Der ländliche Raum lebt eben von Menschen, die machen. Dem stimmt auch der Ortsbürgermeister zu. Edelfried Schimmel formuliert es knackiger, wenn er in Richtung der Sielaffs sagt: "Hut ab!"

Reise endet in Werben

Am Freitag werden MDR KULTUR und MDR SACHSEN-ANHALT nach Werben im Landkreis Stendal fahren. Die kleine Hansestadt wollen die beiden MDR-Reporter Florian Leue und Luca Deutschländer als Kultur-Denkmal insgesamt betrachten. Immerhin steht Werben für Tourismus, Heimatgeschichte und Wachstum im ländlichen Raum gut da, auch wegen des Engagements des Arbeitskreises Werbener Altstadt, der schon 2008 für sein Engagement im Tourismus ausgezeichnet wurde.

Außerdem ist ein Treffen mit Bürgermeister Bernd Schulze geplant, der den Reportern erzählen wird, wie es eine verhältnismäßig kleine Stadt schafft, dem demographischen Wandel zu trotzen.

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"Querschnitt: Kultur": Wo wir bislang waren

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MDR (Florian Leue, Luca Deutschländer)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 29. Juli 2022 | 09:30 Uhr

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