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Spektakuläres Jubiläum in Halle200 Jahre Waggonbau Ammendorf: Warum die Firma so erfolgreich ist

26. August 2023, 11:33 Uhr

Der Waggonbau Ammendorf ist eines der ältesten noch produzierenden Schienenfahrzeugbau-Unternehmen Deutschlands. Schon mehrfach stand die Zukunft der Firma auf der Kippe. Zuletzt hatte der Rückzug des Bombardier-Konzerns im Jahr 2005 die Existenz bedroht. Inzwischen ist die wirtschaftliche Situation wieder sicherer, meint der Historiker Frotscher aus Halle. Für den Erfolg des Unternehmens macht er zwei wesentliche Faktoren verantwortlich.

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Sven Frotscher kennt sich aus mit der Geschichte des Waggonbau Ammendorf. Der Historiker hat inzwischen mehrere Bücher über das Unternehmen veröffentlicht. "Für eine Buchseite muss ich mich durch Hunderte Blätter Akten in Archiven wühlen", erläutert Frotscher im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT.

Waggonbau Ammendorf in HalleDie Ursprünge des Waggonbau Ammendorf gehen zurück bis in das Jahr 1823. Die als Gottfried Lindner AG gegründete Sattlerwerkstatt hatte sich zunächst auf die Reparatur und den Bau von Kutschen spezialisiert. Schnell hat man das Angebot um Straßenbahnen erweitert. Nach der Wende war das Traditionsunternehmen Waggonbau Ammendorf eines der letzten industriellen Großunternehmen in der Stadt Halle.

Auch mit dem Engagement der damaligen Bundesregierung gelang es, den Standort Ammendorf zu erhalten. Das Werk wurde zwischenzeitlich zu einer der modernsten Waggonbaufabriken umgebaut. Im Jahr 2005 hat der kanadische Bombardier-Konzern das Werk im Zuge von Umstrukturierungen geschlossen. Die Nachfolge-Gesellschaft beschäftigt auf dem ehemaligen Gelände derzeit noch mehr als hundert Mitarbeiter und führt Service- und Entwicklungsleistungen aus.

Trotzdem wird ihm sein Forschungsthema nicht langweilig, "obwohl es Momente gibt, wo einem das Thema zu den Ohren rauskommt", gesteht der Forscher. "Es ist schon sehr anstrengend, immer ins Archiv zu fahren und diese Tonnen von Material zu sichten." Trotzdem: Es ist die Detektivarbeit, die ihm Spaß macht. "Aber da muss man durch, denn wenn man müde ist und gerade Pause machen will, kommt diese eine Seite, die einen ganzen Komplex aufklärt", erzählt Frotscher von seinem Forscheralltag.

Ältestes Schienenunternehmen Deutschlands

Momentan hat der Wissenschaftler viel zu tun. Sein Forschungsobjekt feiert Geburtstag: Vor 200 Jahren ist die Gottfried Lindner AG gegründet worden. Ende August gab es deshalb einen Festakt, zu der auch Politikerprominenz aus Magdeburg angereist ist. Bei der Vorbereitung und Organisation der Feier hat Frotscher tatkräftig geholfen. Und in der Tat, es gibt einiges zu feiern. Schließlich ist der Waggonbau Ammendorf, wie viele Hallenser das "Stählerne Herz der Stadt" noch immer nennen, der älteste noch produzierende Waggonbaubetrieb Deutschlands.

Das hallesche Unternehmen steht inzwischen wirtschaftlich wieder sehr gut da, meint Forscher Frotscher. Seit einigen Jahren hat sich der Waggonbau Ammendorf, jetzt heißt das Unternehmen Maschinenbau und Service GmbH, auf die Reparatur von Waggons spezialisiert. "Wann immer bei der Deutschen Bahn ein Wagen kaputt geht, erfolgt der Anruf in Ammendorf: 'Wann könnt ihr reparieren?'", erzählt Frotscher.

Anpassungsbereitschaft ist Erfolgsrezept

Für das lange Leben des Unternehmens hat Forscher Frotscher zwei Faktoren ausgemacht. "Da ist zum einen die Kooperationsbereitschaft der Mitarbeiter und dazu noch die Anpassungsfähigkeit des Unternehmens." Beispielsweise habe Firmengründer Gottfried Lindner früh erkannt, dass Kutschen keine Zukunft gehabt haben und deshalb hat er mit der Produktion von Schienenfahrzeugen begonnen.

Der Waggonbau Ammendorf in der DDRVor der Wende wurden in Ammendorf überwiegend Reisezugwagen für die frühere Sowjetunion gefertigt. Rund 35.000 dieser Waggons waren seit 1948 bis zum Fall der Mauer nach Osteuropa gerollt. Rund 4.700 Waggonbauer standen zu DDR-Zeiten in dem Ammendorfer Werk in Lohn und Brot. Es gab betriebseigene Kindergärten und Geschäfte. Ganze Generationen von Familien fanden in dem Großunternehmen Arbeit. Mit dem Zusammenbruch der Ostmärkte nach der Wende war auch die Zukunft des Ammendorfer Standortes lange Zeit ungewiss.

Dazu kommt auch das soziale Engagement der Chefs. Als Firmengründer Lindner gemerkt hat, wie schwierig die sozialen Verhältnisse seiner Arbeiter sind, hat er eine Betriebskrankenkasse für sie gegründet. Als die Lebensmittelversorgung während des Zweiten Weltkrieges problematisch war, hat das Unternehmen seinen Arbeitern Grundstücke zur Verfügung gestellt, damit sie dort Obst und Gemüse anbauen können. Schon früh bekommen die Arbeiter die Möglichkeit, in unternehmenseigenen Ferienheimen Urlaub zu machen.

Dunkle Zeit nach der Wende

Die beiden Weltkriege, die der Waggonbau im Ammendorf miterlebt hat, sind auch für das Unternehmen existenzbedrohende Zeiten gewesen. "Während des zweiten Weltkrieges sollte sich Ammendorf stärker in der Kriegsgüterproduktion engagieren, was die Besitzer aber abgelehnt haben", erzählt Forscher Frotscher. Auch nach der Wende ging es dem Unternehmen schlecht.

Mit spektakulären Aktionen, Betriebsbesetzungen, Demonstrationen und Mahnwachen, sorgten damals die Waggonbauer immer wieder bundesweit für Schlagzeilen. Doch selbst der Einsatz des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) im Wahlkampfjahr 2002 schob das Aus für den ostdeutschen Standort des kanadischen Bombardier-Konzerns am Ende nur auf.

Reparatur ist weniger konjukturanfällig

Im Sommer 2005 besiegelte der Aufsichtsrat des Bahntechnikherstellers endgültig, das Werk in Ammendorf mit seinen damals 677 Beschäftigten zum Jahresende komplett zu schließen. Dennoch wollten die Waggonbauer, ihr Betriebsrat und die IG Metall nicht kampflos aufgeben. Gemeinsam mit einer Unternehmensberatung suchten sie nach einer tragfähigen Alternative.

Ein Nachfolgekonzept wurde erarbeitet: Mit der Modernisierung von Reisezugwagen aus den Staaten der früheren Sowjetunion soll die Kompetenz der Schienenfahrzeugbauer nicht verloren gehen. Heute weiß man, der Plan ist aufgegangen, freut sich Forscher Frotscher. "Die Waggonbauer in Ammendorf sind die Nummer 1 in Sachen Unfallreparatur." Der Vorteil: Dieses Geschäft ist nicht besonders krisenanfällig, wie die Produktion von neuen Loks und Wagen angeht. Es scheint, als ob auch die Zukunft des Unternehmens gesichert ist.

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MDR (Hannes Leonard), dpa

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 25. August 2023 | 15:30 Uhr

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