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KommentarDie Party ist vorbei – Droht ein sozialer Abstieg in Sachsen-Anhalt?

29. Oktober 2022, 14:16 Uhr

Die Energiekrise trifft Sachsen-Anhalt wegen seiner vielen energieintensiven Betriebe besonders stark. Bereits in der Vergangenheit waren Kriege die Auslöser solcher Krisen. Die Solidarität mit der Ukraine ist wichtig, doch dieser äußeren Solidarität fehlt ein entsprechendes Signal nach innen, ein Kommentar.

Im August trafen sich in Potsdam die Vorstände der Ostdeutschen Sparkassen zu ihrer Jahrestagung. Zu den Rednern gehörte Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Netfonds AG, einem Hamburger Finanzunternehmen. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation sprach er von einer Zeit der größten Umbrüche seit 1949. Das mag aus Sicht eines Bankers aus dem Westen der Republik tatsächlich eine treffende Beobachtung sein, aus ostdeutscher Sicht relativiert sich dies jedoch. Dass sich nämlich die Zahl der Industriearbeitsplätze in der Bundesrepublik halbieren wird, wie seinerzeit in Ostdeutschland, steht ja derzeit, trotz aller Risiken, nicht zu erwarten. Wer allerdings in diesen Tagen Post von seinem Gasversorger bekommt, dem kann schon mal atemlos die nächste Nacht verbringen.

Sparquote sinkt

Nach Angaben der Magdeburger Stadtsparkasse sparten die Kunden in den ersten sechs Monaten diesen Jahres nur noch halb so viel, wie im Jahr zuvor. Anders als bei der Banken- oder Eurokrise, sind die Folgen der Energiekrise nun unmittelbar und ganz direkt in jedem Haushalt zu spüren.

Vorbereitet war auf eine solche Situation in Deutschland offenbar niemand. Weder die Politik, noch Verwaltung und Wirtschaft und auch die Bürgerinnen und Bürger nicht. Dabei ist der Ukrainekrieg der Auslöser, aber sicher nicht die Ursache der gegenwärtigen Situation. Allmählich schwant uns, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, was eigentlich kein neuer Befund ist, nun aber deutlich wird.

Wohlstand durch energieintensive Produktion

Billige Energie war bislang ein wichtiger Grundpfeiler des deutschen Wirtschaftserfolgs. Allein in Ostdeutschland hängen rund 300.000 Jobs an energieintensiven Produktionen, erklärt Sachsen-Anhalts Arbeitgeberpräsident Marco Langhof.

Die Chemieindustrie mit den Standorten Buna, Leuna, Piesteritz und Zeitz siedelte sich vor über einhundert Jahren hier an, auch wegen der Verfügbarkeit von billiger Braunkohle. Diese wurde in Teilen durch billiges Gas aus Russland ersetzt. Das war eine kurzfristig sinnvolle aber perspektivisch eher schwierige Entscheidung, wie sich nun zeigt.

Kriege als Auslöser von Energiekrisen

Bei der ersten Ölkrise 1973 waren es die arabischen Staaten, die versuchten, wegen des Jom-Kippur-Krieges zwischen Israel und den arabischen Staaten, Druck auf den Westen auszuüben. Es kam zu Sonntagsfahrverboten im Westen Deutschlands. Das führte seinerzeit aber nicht zu Debatten, ob den Forderungen der Ölförderstaaten politisch Rechnung zu tragen sei. Auch gab es keine Partei, die zu Protesten aufrief. Stattdessen fuhren die Menschen Rad auf den Autobahnen.

In Ostdeutschland beobachtete man das Ganze ohnehin aus Abstand über die Mauerkrone hinweg. Während nämlich die Westwagen in der Garage blieben, knatterten Dank des sowjetischen Öls die Trabis munter weiter durch die Arbeiter- und Bauernrepublik. Doch diese Unbeschwertheit sollte mit der zweiten Ölkrise ein Ende finden.

Die zweite Ölkrise und das Ende der DDR

Als 1979 im Iran der Schah gestürzt wurde, brach die iranische Ölproduktion ein, was wiederum einen Preisschock auslöste. Da aber zu diesem Zeitpunkt die Sowjetunion bereits selbst in einer ökonomischen Krise steckte, kürzte sie die Liefermengen Rohöl. Das hatte die DDR bis dahin zu Vorzugspreisen bezogen. Stattdessen wurde nun der Westen zu Marktpreisen versorgt.

Drei Jahre später drohte der DDR zum ersten Mal die Zahlungsunfähigkeit. Das rief allerdings nicht den großen Bruder aus Moskau auf den Plan, sondern den Bayerischen Ministerpräsidenten Josef Strauß, der dem "Klassenfeind" mit einem Milliardenkredit aus der Patsche half. Doch das Ende der DDR war damit nur aufgeschoben.

Ökonomen gehen davon aus, dass dieser zweite Ölpreisschock den Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft beflügelt hat. Wer also meint, es gebe eine Art historisches Anrecht auf billiges Öl oder Gas aus Russland, sollte die Folgen der damaligen sowjetischen Preispolitik nicht ignorieren.

Sachsen-Anhalts Wirtschaft trifft es besonders

Mit den Branchen Chemie, Papier und Glas, sowie den Großbäckereien und -schlachtereien trifft die Energiekrise Sachsen-Anhalts Wirtschaft stärker als andere Regionen Ostdeutschlands. Dabei verfolgt die Landespolitik schon seit längerem eine Strategie, fossile Energieträger zu ersetzen, etwa durch grünen Wasserstoff. Über das Stadium der Absichtserklärungen ist man inzwischen hinweg, doch die Umsetzung ist aufwändig und kaum innerhalb weniger Jahre zu realisieren.

Angesichts der Energiekosten stellt sich nun allerdings grundsätzlich die Frage, welchen Sinn es macht, mit einer Riesenbäckerei im Landkreis Mansfeld-Südharz halb Europa mit Tiefkühlbrötchen zu versorgen. Und wieso ist eigentlich die Fleischzerlegung in Orten wie Weißenfels kostengünstiger als anderswo in der EU? Dass Deutschland vielen Bereichen als Exportweltmeister gilt, war offenbar auch wegen der niedrigen Energiepreise möglich.

Unsicherheit nimmt zu

Es kracht gewaltig, zumindest verbal. Die einen versprechen eine finanzielle Entlastung von Bürgern und Unternehmen, die anderen einen "heißen Herbst" auf den Straßen. Weder das eine noch das andere ist bislang so richtig in Schwung gekommen. Das vorherrschende Gefühl ist offenbar nicht Wut, sondern Unsicherheit, insbesondere in den ostdeutschen Regionen, die sich seit 30 Jahren nach jener westdeutschen Normalität sehnen. Die ist aber für einen großen Teil der Menschen bislang ausgeblieben.

Allmählich reift auch die Erkenntnis, dass die Zeiten jener westdeutschen Normalität dauerhaft vorbei sein könnten. Als sich nach dem letzten Treffen der Ministerpräsidenten erneut keine klare Strategie zur Begrenzung der Energiepreise abzeichnete, warnte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff vor Diskussionen, die der Demokratie nicht guttun würden.

Innere und äußere Solidarität

Bereits im April dieses Jahres hatte Bundeswirtschaftsminister Habeck mit einem einfachen Hauptsatz klargemacht, welche Folgen der Krieg für uns haben wird: "Wir werden alle ärmer werden." Ein ungewöhnlich klarer Hauptsatz für einen Politiker, welcher aber wenig Widerhall fand. Möglicherweise auch, weil wohl viele Menschen bereits ahnten, dass unsere bisherige Art des Wirtschaftens und Konsumierens möglicherweise an einen Endpunkt gelangt ist.

Zudem bezeichnet der Begriff "ärmer werden" ja nur einen relativen Umstand, der allerdings entscheidend ist. Wenn in Sachsen-Anhalt jeder vierte Beschäftigte Mindestlohn bezieht, dann ist der Abstand zwischen "ärmer" und "arm" deutlich geringer als in Baden-Württemberg oder Hamburg. Das findet dann seinen Niederschlag eben auch im innerdeutschen Demonstrationsgeschehen.

Die Unterstützung der Ukraine ist für einen großen Teil Europas das klare Bekenntnis, dass Angriffskriege, zumindest auf diesem Kontinent, nicht toleriert werden. Doch dieser äußeren Solidarität fehlt ein entsprechendes Signal nach innen, das über des Kanzlers "You never walk alone" hinausgeht.

Unliebsames Thema: "Umverteilung"

Der Gaspreisdeckel unterscheidet nicht zwischen einem Einkommensmillionär und einem Verdiener im Mindestlohnbereich. Die Deckel-Kommission begründet diese offensichtlich soziale Schieflage in der Förderkonstruktion mit der Kürze der Zeit. Aber auch die Erhöhung des Mindestlohnes zum ersten Oktober dürfte angesichts der Inflation keine nennenswerte Entlastung für die Betroffenen bringen, zumal viele Unternehmen mit Stundenkürzungen reagieren. Unterm Strich steht also kaum mehr Geld zur Verfügung.

Umso wichtiger wäre es, vor allem jene zu entlasten, die mit ihrem Einkommen bislang nur knapp über den Armutsgrenzen lagen, nun aber drohen, finanziell weiter abzurutschen. Es ist die berechtigte Angst vor dem Abstieg, welche die Betroffenen umtreibt, eine Angst, die nicht auf ostdeutscher Einbildung beruht, sondern auf ostdeutscher Erfahrung.

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MDR (Uli Wittstock, Annekathrin Queck)