Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben

Trotz sozialer SicherungssystemeWarum es mehr Obdachlose gibt

23. Dezember 2019, 11:17 Uhr

Obwohl die soziale Ungleichheit in Deutschland nicht steigt, gibt es mehr Obdachlose. Professor Joachim Weimann von der Universität Magdeburg erklärt, warum Menschen trotz sozialer Sicherungssysteme auf der Straße leben.

von Alisa Sonntag, MDR SACHSEN-ANHALT

Laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gibt es in Deutschland immer mehr Obdachlose. Wie kann das sein, in einem reichen Sozialstaat wie Deutschland? Was sagt das über unsere wirtschaftliche Situation aus? Wir haben den Wirtschaftswissenschaftler Joachim Weimann von der Universität Magdeburg gefragt.

MDR SACHSEN-ANHALT: Zwar gibt es in Deutschland keine offizielle Obdachlosenstatistik, Schätzungen besagen aber, dass die Zahl der Obdachlosen in den letzten Jahren gestiegen ist. Wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer?

Joachim Weimann: Nein. Tatsächlich zeigen Zahlen, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland seit 2005 etwa gleich geblieben ist. Zumindest, wenn man die Migration nach Deutschland herausrechnet. Durch die vielen Menschen, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, ist die Ungleichheit noch einmal leicht gestiegen. Denn die meisten dieser Menschen sind ja nicht ganz oben in unser System eingestiegen. Obwohl für viele die Ankunft in Deutschland trotzdem ein wirtschaftlicher Aufstieg war.

Das Narrativ, dass die Ungleichheit in Deutschland immer weiter steigt, ist dennoch hinfällig. Die Zahl der Obdachlosen sagt nichts über unsere wirtschaftliche Situation aus.

Warum gibt es dann mehr Obdachlose?

Um das zu beantworten, muss man erst einmal verstehen, warum Menschen in Deutschland überhaupt obdachlos sind. Schließlich haben wir soziale Sicherungssysteme. Unsere Gesellschaft fängt es eigentlich auf, wenn jemand seine Miete nicht mehr bezahlen kann. Aber es gibt Menschen, die durch das Raster dieser Sicherungssysteme fallen.

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein wichtiger ist die Herkunft dieser Menschen. 80 Prozent der Obdachlosen in Deutschland stammen aus Osteuropa. Durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit kommen sie nach Deutschland, wo ihre Arbeitskraft dringend gebraucht wird. Drei Monate lang haben sie hier die Möglichkeit, Arbeit zu finden. Wenn das klappt, ist auch alles gut, sie haben dann auch Anspruch auf Sozialleistungen.

Eine offizielle Statistik zu Obdachlosen gibt es nicht (Symbolbild). Bildrechte: Colourbox.de

Wenn sie allerdings keine Arbeit finden, verlieren sie ihren Aufenthaltsstatus und müssen eigentlich aus Deutschland ausreisen. Manche bleiben jedoch trotzdem hier. Sie sind lieber in Deutschland obdachlos, als in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie gar keine Perspektive haben. Gleichzeitig trauen sie sich nicht, sich bei den Ämtern zu melden, weil sie Angst haben, ausgewiesen zu werden. Also leben sie auf der Straße.

Was ist mit den Obdachlosen, die nicht aus Osteuropa stammen?

Außer der Herkunft gibt es noch andere Gründe, durch das Raster unserer sozialen Sicherungssysteme zu fallen. Beispielsweise haben einige Obdachlose mit massiven psychischen Erkrankungen zu kämpfen und sind deswegen einfach nicht in der Lage, die staatlichen Hilfen in Anspruch zu nehmen.

Es gibt auch einige Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben. Die meist aus ihren Familien abgehauen sind, weil die Situation zu Hause so schlimm war. Wenn die Sozialämter das nicht wissen, sind die auch erst einmal weg vom Radar, weil ja eigentlich die Eltern für die zuständig sind. Das ist ein riesiges Problem, aber es gibt auch einige Initiativen, die sich recht erfolgreich um diese Kinder kümmern.

Die Fragen stellte Alisa Sonntag.

Mehr zum Thema

Quelle: MDR/aso

Kommentare

Laden ...
Alles anzeigen
Alles anzeigen