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LehrermangelLehrer: Warum schmeißen so viele Seiteneinsteiger hin?

03. April 2023, 05:00 Uhr

Seiteneinsteiger werden in Sachsen-Anhalt dringend gebraucht, um den Lehrermangel irgendwie auszugleichen. Jede achte Lehrkraft hat hier mittlerweile kein Lehramtsstudium. Doch bereits nach kurzer Zeit scheiden viele wieder aus. Woran das liegt und was sich ändern muss, um dies künftig zu verhindern.

Vor Kerstin Singer sitzen Schüler, die aus Indien, Syrien oder Kurdistan kommen. Die 11- bis 16-Jährigen gehen in die Internationale Klasse in der Wladimir-Komarow-Sekundarschule in Stendal und bekommen gerade Unterricht im Fach Deutsch als Zweitsprache. Alle sollen mitkommen, die Herausforderung für die Seiteneinsteigerin als Lehrerin ist riesengroß.

Singer ist eine von rund 1.330 Seiteneinsteigern an Sachsen-Anhalts Schulen. Mittlerweile hat dort jede achte Lehrkraft nicht auf Lehramt studiert, bei den Neueinstellungen machen die Seiteneinsteiger sogar die Hälfte aus. Das Problem: Sie werden offenbar unzureichend auf den neuen Job vorbereitet. Nach vier Wochen Vorbereitungskurs stehen sie alleine vor der Klasse.

Viel Arbeit, wenig Vorkenntnisse: Singer hatte vor ihrem Wechsel an die Schule 15 Jahre lang als Journalistin gearbeitet, sich familienfreundlichere Arbeitszeiten gewünscht. Auch wollte sie  wieder mehr mit Menschen zu tun haben. Die 48-Jährige ist allerdings keine ausgebildete Pädagogin, hatte Germanistik, Geschichte und Wirtschaft studiert.

Singer erinnert sich an die erste Zeit: "Das wäre schon schön gewesen, erst mal einen Monat oder zwei einfach dabei zu sein, ein Gefühl für die Schule und die Klassen zu kriegen und nicht gleich ins kalte Wasser geworfen zu werden." Zudem gebe es an der Sekundarschule riesige Leistungsunterschiede: In der internationalen Klasse gibt es alles: vom schwächsten Hauptschüler bis zu Schülern, die eigentlich aufs Gymnasium gehen könnten. "Die wollen alle auf ihrem Niveau abgeholt werden." Oft hat sich Kerstin Singer überfordert gefühlt. Hinzu kam, dass sie am Anfang zwischen zwei Schulen hin und her pendeln musste.

Lehrer sein, von Null auf Hundert

An die Wladimir-Komarow-Schule gehen Schülerinnen und Schüler aus 26 Nationen, 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Auch deshalb ist Schulleiterin Christiane Bloch auf gut geschultes Personal angewiesen. Von ihren insgesamt 23 Lehrkräften sind sechs Seiteneinsteiger. Alle machten einen guten Job, sagt Blocher. Doch der Anfang läuft aus ihrer Sicht nicht ideal. 

"Um im Lehrerberuf bestehen zu können, reichen vier Wochen Einsteiger-Kurs nicht aus", sagt Bloch. Ein Kollege habe diesen Kurs sogar erst bekommen, nachdem er bereits angefangen hatte. In diesem Fall scheint die Frage: Wann wird kaltes Wasser zu Eis? Aus Sicht der Schulleiterin sollten die Seiteneinsteiger besser vorbereitet werden. Sie würde sich wünschen, dies auch personell besser begleiten zu können. Doch in Sachsen-Anhalt mangelt es massiv an Lehrkräften. An manchen Schulen kann zeitweise nur die Hälfte des Unterrichts erteilt werden.

Um im Lehrerberuf bestehen zu können, reichen vier Wochen Einsteiger-Kurs nicht aus.

Christiane Bloch | Schulleiterin

Wenn Seiteneinsteiger unvorbereitet vor die Klasse gestellt werden

"Die Seiteneinsteiger haben natürlich ihre fachliche Ausbildung, aber nicht die didaktische und pädagogische Ausbildung", sagt Thomas Lippmann, bildungspolitischer Sprecher der Links-Fraktion in Sachsen-Anhalt. Er war früher selbst Lehrer und Schulleiter. Wenn die Seiteneinsteiger ins kalte Wasser geworfen würden, ohne die Chance zu haben, das Schwimmen dosiert zu erlernen, dann "muss man sich natürlich auch nicht wundern, wenn die untergehen."

Seit Jahren fordert Lippmann die Landesregierung auf, offenzulegen wie viele Seiteneinsteiger eigentlich im Schuldienst bleiben. Das Ergebnis: Die Fluktuation ist hoch. Allein im Jahr 2022 wurden zwar 804 neue Seiteneinsteiger eingestellt, 499 aber verließen das System auch wieder, sei es durch Kündigung oder befristete Verträge. Am Jahresende waren nur 305 Seiteneinsteiger mehr beschäftigt als im Jahr zuvor.

Für Lippmann ein Unding: "Die Kinder und am Ende die Gesellschaft bezahlen die Zeche für diese Fehlentscheidungen der Kultusministerkonferenz." Man müsse mit den Seiteneinsteigern anders umgehen. Es reiche nicht, nur zu schauen, wer durchkommt und dann werden Neue gesucht. Denn: Auch angesichts des Fachkräftemangels sei diese Quelle nicht unerschöpflich. "Und umso wertvoller muss man eigentlich mit diesen Juwelen, die man hat, umgehen."

Hürden für Seiteneinsteiger gesenkt

Gesucht werden immer mehr Seiteneinsteiger auf immer neue Arten: Das Bildungsministerium Sachsen-Anhalt rührt die Werbetrommel und hat etwa in Wernigerode ein Speed-Dating für Seiteneinsteiger organisiert. Am 1. März konnte sich an der Ganztagsschule Burgbreite jeder, der Lehrer werden will, informieren. Die Hürden für den Seiteneinstieg sind niedriger geworden. Brauchten Bewerber früher mindestens ein Master oder Diplom, reicht heute ein Bachelor an der Berufsakademie.

Wolfgang Kirst ist seit 32 Jahren Schulleiter an der Burgbreite und kennt den Lehrermangel von seiner Schule. Er hofft, dass beim Speed-Dating Bewerber Blut lecken, er hat positive Erfahrungen gemacht. "Wir haben eine Seiteneinsteigerin, die aus der Wirtschaft kommt und sie bringt diese Sichtweise aus der Wirtschaft progressiv und aktiv ein."

"Wir haben einen Seiteneinsteiger aus Kamerun, aus Afrika. Das hat unsere Schule total bereichert", berichtet Kirst. Serge Alain Kouamou studierte BWL und Energiemanagement in Deutschland, seit elf Monaten unterrichtet er in der Ganztagsschule Französisch, Mathe und Technik.

Kritik: "Auf Dauer geht das nicht gut"

Trotzdem ist Kirst kritisch, denn die neuen Lehrkräfte seien nicht gleichgestellt. Nur wer zwei Schulfächer studiert hat und noch ein Referendariat anschließt, kann vollständig anerkannter Lehrer werden. Das schafften die wenigsten. "Zum einen schaffen wir im Lehrerzimmer verschiedene Gehaltsniveaus. Die Seiteneinsteiger werden alle niedriger eingruppiert als angestellte Lehrer, die wieder niedriger als verbeamtete Lehrer."

Die Seiteneinsteiger werden alle niedriger eingruppiert als angestellte Lehrer, die wieder niedriger als verbeamtete Lehrer.

Wolfgang Kirst | Schulleiter

Hinzu komme, dass es auch zwischen den Seiteneinsteigern Unterschiede gebe, so Kirst. "Und wenn ein Seiteneinsteiger Klassenlehrer ist, fachlich kompetent ist, in allen Klassen super Arbeit macht, stellt er sich irgendwann die Frage, wieso habe ich hier ein paar Hunderter weniger?" Dabei gehe es um viel Geld pro Monat im Vergleich zu verbeamteten Lehrkräften. "Auf Dauer geht das nicht gut."

Das Ansehen der Lehrer

Trotz aller Forderungen zur Verbesserung: Seiteneinsteiger werden laut Experten das Loch nicht stopfen können. Das sagt auch Bildungsforscherin Nina Kolleck, Professorin an der Universität Leipzig. "Es ist jetzt ja eher eine Notlösung. Die, würde ich sagen, die Ursachen sogar noch verschlimmert. Denn eine Ursache für den Mangel an Lehrkräften ist ja das mangelnde Ansehen in Deutschland. Und das Ansehen von Lehrkräften wird durch diese Zunahme von Seiteneinsteigern eben nicht erhöht und auch die Arbeitsbedingungen werden nicht verbessert."

Dass die Seiteneinsteiger eine Notlösung sind, davon will die Stendaler Sekundarschul-Leiterin Christiane Bloch allerdings nichts wissen. Sie ist froh über alle Kollegen, die da sind. Seiteneinsteigerin Kerstin Singer hatte nebenbei eine pädagogische Zusatzausbildung gemacht und will bleiben. Ihr bereitet die Arbeit Freude – trotz des schwierigen Starts. Zum Glück: Denn nur mit Seiteneinsteigern kann Schulleiterin Bloch den Bildungsauftrag erfüllen. An vielen anderen Schulen in Sachsen-Anhalt fällt dagegen teils sehr viel Unterricht aus.

Doch die Frage ist, wie lange wird das an dieser Schule so bleiben? Im kommenden Jahr gehen dort sechs Lehrer in Rente. "Ich mache mir schon Sorgen, dass wir wirklich den Unterricht künftig so absichern können, wie wir es in den letzten Jahren auch gewohnt waren", so Bloch. "Um den Kindern eine allumfassende Bildung bieten zu können."

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 29. März 2023 | 20:15 Uhr