Kim de l'Horizons Roman auf der BühnePremiere in Magdeburg: "Blutbuch" verspricht ein Theater-Glückserlebnis
Ein Raunen ging durchs Feuilleton, als Kim de l'Horizons "Blutbuch" mit dem Deutschen Buchpreis 2022 prämiert wurde. Für Aufsehen sorgte vor allem, das Kim de l'Horizon sich als nicht-binäre Person definiert, nicht Mann, nicht Frau. Um Identität und Selbstbestimmung geht es auch in dem Roman. An die Bühnenfassung wagte sich der junge in Eisleben geborene Regisseur Jan Friedrich. Am Samstagabend war Premiere in Magdeburg. Unser Kritiker spricht von einem Theater-Glückserlebnis für alle Sinne!
- Am Theater Magdeburg feierte am Samstagabend das Stück "Blutbuch" nach Kim de l'Horizons gleichnamigem Roman Premiere.
- Regisseur Jan Friedrich inszenierte ein Theater-Erlebnis für alle Sinne.
- Auch das Ensemble auf der Bühne leistet Großes.
Kim sucht seine/ ihre Identität. Kim fühlt sich nicht als Mann, nicht als Frau. Kim will sich befreien aus der binären Geschlechterwelt. Wie Regisseur Jan Friedrich diesen bewegenden, wundersamen, vielschichtigen Roman-Text auf der Bühne umsetzt, ist umwerfend. Bilder und Worte verschmelzen kongenial. Obwohl keine Bühnenhandlung stattfindet, sondern im Grunde doch nur Prosatexte frontal ins Publikum und in Live-Kameras gesprochen werden, geschieht etwas, das im Theater nur sehr selten passiert.
Man wird so sehr in diesen Prozess, in diese Kim-Welt hineingezogen, dass man nach den zwei Stunden kaum fassen kann, wieder in das Leben vor dem Theater zurückzukehren. Der Abend entwickelt einen Sog.
Eintauchen in Kim de l'Horizons herausragenden Text: "Blutbuch"
Dabei sah es anfangs zunächst aus, als würde das einer dieser typischen Prosa-Aufsage-Abende auf einer Bühne. Die Großmutter steht in der Bühnenmitte, leicht gebeugt, zwei Einkaufsbeutel in den Händen. Auf einem Podest hinter ihr erscheinen nacheinander ein, zwei, drei, vier Personen und beginnen Kim de l'Horizons Texte zu sprechen. Ruhig, die Worte abwägend. Die Großmutter vorne – wie eingefroren. Schon ist zu befürchten, sie könne einen Krampf bekommen, das könnte die Inszenierungsidee sein: Die inhaltlich wie stilistisch herausragenden Texte Kim de l'Horizons – in Ermangelung einer Bühnenhandlung vorgetragen von mehreren, signalhaft (und identisch) genderfluid bzw. non-binär gekleideten Schauspielerinnen und Schauspielern. Dazu ein bisschen Live-Video, das ausgewählte Buch-Szenen illustriert.
Theater-Erlebnis statt Prosa-Aufsage-Abend
Mit Beginn der zweiten Szene ändert sich das. Obwohl im Grunde doch nur Prosatexte frontal ins Publikum und in die Kameras gesprochen werden, obwohl Kim und die Großmeer (schweizerisch für Großmutter) nie miteinander, sondern aneinander vorbei sprechen, wird Kims Suche nach Identität, nach einer Sprache für die eigene Geschichte, den eigenen Körper, die eigene Lust intensiv erlebbar.
Videos werden auf einen riesigen Fadenvorhang projiziert. Sie zeigen in Nahaufnahmen Momente aus der Kindheit, die Hände Kims, die Räume der Kindheit, die Küche der Großmutter, ihren Mund, so nah, dass es beinahe weh tut. Man kann förmlich fühlen, dass Kim die Welt der Großmutter mit ihren Regeln und Weisheiten ebenso fremd ist wie ihr eigener Körper.
Man folgt den Texten so gebannt, dass man die Frage vergisst, ob das Thema non-binäre Personen gesellschaftlich wirklich so relevant ist und der Roman wirklich so Buchpreis-würdig. So dass man fast überhört, welche Wort-Purzelbäume Kim de l'Horizon schlägt, um alles Männliche sprachlich zu löschen. Dass von verschwestern statt verbrüdern gesprochen wird oder gar niemensch statt niemand gesagt. Dass man die rhetorischen Zuspitzungen verzeiht, mit denen Kim de l'Horizon die nicht-binäre Identität quasi zum Standard erhebt und damit alles Binäre (ausdrücklich zum Beispiel schwule Männer) abwertet.
Dieses Buch ist ein emanzipatorischer Befreiungsschlag, den man spätestens nach dieser Inszenierung genau so lieben muss, wie er ist.
Tolles Ensemble, spektakuläres Setting in Sound und Szene
An dieser Magdeburger Inszenierung stimmt einfach alles. Es gibt eine tolle Farbkonzeption, viele grelle Farben: Rot, natürlich, die Blutbuche ist ein Leitmotiv. Sie spielt sogar mit als eine Art Mensch-Baum-Zwitter, ebenfalls nicht-binär. Der Abend hat einen Soundtrack, der nicht nur, aber über lange Strecken Kavinskys "Nightcall" variiert, den Song aus dem Film "Drive". Es ist der Song, den Kim de l'Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises anstimmte.
Das Ensemble auf der Bühne, das Kim spielt (teilweise stehen bis zu 6 Kims in identischen, schrillen und bewusst nicht nur männlich oder eben weiblich wirkenden Kostümen auf der Bühne) leistet Großes. Gesprochen wird sehr emotional. Mal still, mal richtig derb und laut und manchmal ziemlich obszön. Ab und an sogar komisch und selbstironisch. Es wird ins Schwyzerdütsch gewechselt und am Ende ins Englische, die Übersetzungen sind jeweils auf Leinwänden mitlesbar. Nichts davon wirkt aufgesetzt, alles wirkt organisch. Wie gesagt, das passiert in einer solchen Intensität nicht so oft.
Erste Liga in Magdeburg erleben
Wie man überhaupt sagen muss, dass das Magdeburger Schauspiel unter der dreiköpfigen Leitung von Clara Weyde, Clemens Leander und Bastian Lomsché seit der vergangenen Spielzeit eine herausragende Ausrichtung erfahren hat. Neue, spannende Formen. Junges, urbanes Theater, das Experiment ist und doch nicht vor den Kopf stößt. Wer in Magdeburg Erste Liga sehen will, der muss ins Schauspielhaus gehen. Oder zum Handball, natürlich.
Angaben zur Aufführung am Theater Magdeburg: "Blutbuch"Schauspielhaus
Otto-von-Guericke-Straße 64
39104 Magdeburg
"Blutbuch" von Kim de l'Horizon
Ab 16 Jahren
Nächste Vorstellungen
3., 11. und 25. Februar
22. März
Weitere Termine sind in Planung.
Quelle (MDR KULTUR), Redaktionelle Bearbeitung: ks
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 29. Januar 2024 | 08:40 Uhr