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Interview mit Bürgermeisterin Barbara Lüke"Pulsnitz kann letztlich überall passieren"

18. Juli 2017, 17:51 Uhr

Aus einer Kleinstadt in der Oberlausitz ist vor einem Jahr ein Mädchen weggelaufen, mutmaßlich um sich der Terrororganisation Islamischer Staat anzuschließen. Nun gibt es Hinweise, dass sie im Irak aufgegriffen wurde. MDR SACHSEN sprach dazu mit Pulsnitz` Bürgermeisterin Barbara Lüke.

Frau Lüke, als Sie gehört haben, dass das Mädchen vielleicht wieder aufgetaucht ist, was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?

"Zunächst mal natürlich Erleichterung und die Frage, was sie wohl alles erlebt hat und wie das ihr weiteres Leben bestimmen wird."

Was wurde Ihnen vor einem Jahr bewusst, als das Mädchen verschwand?

"Dass es durch das Internet keine Gegenden mehr gibt, in denen nicht alles möglich ist. Wir leben in einem Ort, in dem es keine Flüchtlinge oder islamische Glaubensbezeugungen gibt. Das Mädchen wurde durch das Internet radikalisiert. Diese Gefahr darf nicht unterschätzt werden."

Wie hat Sie der Fall weiter begleitet?

"Ich habe mich gefragt, welche Möglichkeiten wir eigentlich haben, zu reagieren, wenn Signale von Kindern oder Eltern gesendet werden, dass sie Hilfe brauchen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir eine zentrale Krisennotrufnummer brauchen, wo Eltern sich hinwenden können, wenn sie mit Veränderungen ihrer Kinder nicht zurechtkommen und wo Kinder sich hinwenden können. Wir brauchen so etwas wie eine 110 oder 112 , meinetwegen eine 114. Da haben wir ein großes Defizit an Strukturen. Dass in einem Ort, in dem eigentlich nichts darauf hindeutet, sich ein Kind radikalisieren kann, zeigt, dass Pulsnitz letztlich überall passieren kann."

Wo liegt insbesondere für ihre Stadt das Problem?

"Wir haben als Stadt unserer Größenordnung kein eigenes Jugend- und Sozialamt. Wir sind auf das Kinder- und Jugendnetzwerk angewiesen, das der Landkreis zur Verfügung stellt und dort sind solche Fälle nicht vorgesehen. Wir brauchen beispielsweise dringend eine Schulsozialarbeit, die durchaus auch schon in der Grundschule ansetzen kann."

Können Sie da als Stadt nichts tun?

"Wir könnten uns freiwillig an einer solchen Maßnahme beteiligen. Wenn wir ein großes Budget hätten, würden wir einen Teil der Schulpsychologen und psychologischen Beratungsstellen mit anbieten. Unser Problem ist, dass wir als Kommune Pflichtaufgaben haben, die wir zunächst erfüllen müssen. Die freiwilligen Sachen können finanzstarke Kommunen machen, Pulsnitz ist aber nicht finanzstark. Und man muss natürlich sagen, hier gibt es Zuständigkeiten. Wir würden in die Kompetenzen anderer eingreifen."

Wenn das Mädchen zurückkommt, wie geht es dann weiter?

"Das ist in meinem Amt eine hypothetische Frage. Die Bürgermeisterin ist die letzte, die in den privaten Bereich der Familie eingreifen sollte. Aber ich denke, es ist wichtig, dass man zunächst schaut, wie es dem Mädchen geht. Und wenn sie möchte, sollten wir sie unterstützen, ihr Raum geben, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Es wird ohnehin nicht so sein, dass sie gleich nach Pulsnitz zurückkommt, als wenn vorher nichts gewesen wäre. Es gibt einen ganzen Rattenschwanz an Ermittlungen. Da müssen wir erst einmal abwarten."

Welche Lehre ziehen Sie aus dem Fall?

"Der nächste kann schon vorm Computer sitzen und ähnliches wie das Mädchen vorbereiten. Wir wissen es nicht. Diese Gefühl: Wir ziehen uns zurück, alles ist sicher und uns kann nichts passieren – von diesem Gefühl müssen wir uns verabschieden. Wir sind alle füreinander mitverantwortlich, sollten aufeinander achten und nicht nur unseren eigenen kleinen Quadratmeter betrachten, auf dem wir stehen. "

Über dieses Thema berichtet MDR SACHSEN auch im Radio und Fernsehen:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 18.07.2017 | 16:00 Uhr in den Nachrichten
MDR SACHSENSPIEGEL | 18.07.2017| 19:00 Uhr