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BildungGemeinschaftsschulen in Sachsen – Neues Lernmodell wenig gefragt?

09. Januar 2023, 05:00 Uhr

Gemeinschaftsschulen sind in Sachsen seit August 2020 möglich. Inzwischen gibt es zwei Schulen in Dresden und eine in Leipzig, an denen Kinder und Jugendliche länger gemeinsam lernen. Wie hat sich das Modell entwickelt? Und welche Hürden gibt es?


In der Gemeinschaftsschule Albertstadt in Dresden lernen seit diesem Schuljahr rund 230 Schülerinnen und Schüler in den Klassenstufen fünf bis sieben gemeinsam. Schon das brandneue Gebäude ist hier anders und auf das neue Konzept abgestimmt. "Bei uns ist es so, dass wir keinen klassischen Unterricht haben", erklärt Direktorin Miriam Bankert im Gespräch mit MDR SACHSEN. "Das Klassenzimmer ist immer nur ein Lernort, das ganze Schulhaus wird verwendet."

Die Kinder lernten "selbstorganisiert und selbstverantwortlich an Lernplänen", punktuell gebe es "Lehrerinput". Nur dieser Input finde im klassisch eingerichteten Klassenzimmer statt. Für die anderen Aufgaben gibt es auf den Fluren viele kleine Nischen mit Tischen und Bänken, in die sich die Kinder und Jugendlichen zum Lernen allein oder gemeinsam zurückziehen können.

Schulabschlüsse werden an Gemeinschaftsschulen erst am Ende entschieden

Der größte Unterschied zu anderen Schulen besteht aber darin, dass die Schülerinnen und Schüler hier bis zur 12. Klasse zusammen lernen und alle Abschlüsse vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur ablegen können.

Es sei zu keinem Zeitpunkt festgelegt, mit welchem Schulabschluss ein Schüler die Schule verlassen wird, so Direktorin Bankert. "Dadurch bleiben sie in Gemeinschaft und jeder lernt auf seinem Anforderungsniveau. Abschlüsse werden erst ganz zum Schluss entschieden."

Den Vorteil sieht sie darin, dass "wir Zehnjährige nicht in Schubladen drängen müssen, zum einen, was den Druck und zum anderen, was das 'Sich-Selbst-Aufgeben' angeht." Den räumlichen Gegebenheiten sei es geschuldet, dass die Gemeinschaftsschule in der Albertstadt nicht von der 1. bis zur 12. Klasse unterrichtet, sondern mit der Klassenstufe 5 beginnt.

Der Grundgedanke von Gemeinschaftsschule ist längeres gemeinsames Lernen, damit wir nicht Zehnjährige in Schubladen drängen müssen. Zum einen was den Druck und zum anderen das Sich-Selbst-Aufgeben angeht.

Miriam Bankert | Direktorin der Dresdner Gemeinschaftsschule Albertstadt

Auf dem Land bisher keine Gemeinschaftsschule

Die gesetzliche Grundlage für die Gemeinschaftsschulen in Sachsen hatte im Juli 2020 der Sächsische Landtag geschaffen. Nur drei Schulen in Sachsen bieten seither die neue Schulform an, zwei öffentliche in Dresden und eine Schule in privater Trägerschaft in Leipzig. Nicht genug, findet der Verein "Gemeinsam länger lernen in Sachsen". Viele wüssten schlichtweg nicht, dass die neue Schulform existiere, sagt der Vereinsvorsitzende Florian Berndt.

Nach seiner Einschätzung ist das Interesse etwa an der Gemeinschaftsschule Albertstadt in Dresden groß. In den Landkreisen könne der Verein bisher keine große Bewegung in dieselbe Richtung beobachten. "Die Gründung von Gemeinschaftsschulen und Oberschulen Plus gehen in Sachsen aus unserer Sicht sehr schleppend voran, in zwei Jahren hätte mehr passieren müssen", so Berndt.

Oberschule PlusHier kann von der 1. bis zur 10. Klasse oder in Kooperation mit einer Grundschule von der 5. bis zur 10. Klasse gemeinsam gelernt werden. Ziel sind dort zwar der Haupt- oder Realschulabschluss, durch ergänzenden Unterricht soll jedoch der Wechsel ins Gymnasium erleichtert werden.

Kultusministerium will Entwicklung der Gemeinschaftsschulen begleiten

Woran das liegt? Gerald Heinze, der beim Kultusministerium für die allgemeinbildenden Schulen zuständig ist, erklärt: "Weil wir uns gerade auf den Weg machen." Erste Schulen seien dabei, das was im Gesetz steht, in eine schulische Konzeption umzusetzen. "Das ist ein Entwicklungsweg, den wir in den nächsten Jahren begleiten werden", so Heinze. Es gebe aber auch Hürden bei dieser neuen Schulform. "Die einen wollen vielleicht mal einen akademischen Beruf ergreifen und haben die Voraussetzungen, die anderen wollen sich den Beruf in der dualen Ausbildung suchen und einige werden Probleme haben, einen Abschluss zu erreichen".

Das ist ein Entwicklungsweg, den wir in den nächsten Jahren begleiten werden.

Gerald Heinze | Kultusministerium Sachsen

Eine Einschätzung, wie zufriedenstellend die Entwicklung ist, möchte das Ministerium aber nicht abgeben, da es noch zu wenige Schulen gebe. Die Initiative zur Gründung einer Gemeinschaftsschule müsse von der Basis kommen, also vom Schulträger oder von der Lehrerschaft.

GEW: Hohe Hürden in Sachsen für Gemeinschaftsschule

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Sachsen (GEW) sieht allerdings hohe Hürden für die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen im Freistaat. Die GEW-Landesvorsitzende Uschi Kruse sagte MDR SACHSEN: "In der 5. Klassenstufe müssen mindestens vier Parallelklassen eingerichtet werden. Damit kommt diese Schulform praktisch nur für Großstädte in Frage." Auch für den Schulbau seien damit weitreichende Konsequenzen verbunden, die eine große und langfristige Aufgabe für die Träger darstellen. "Die Gemeinschaftsschulen können deshalb nur sehr langsam Einzug in die sächsische Schullandschaft halten." 

Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Arno Burgi

In der 5. Klassenstufe müssen mindestens vier Parallelklassen eingerichtet werden. Damit kommt diese Schulform praktisch nur für Großstädte in Frage.

Uschi Kruse | Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

Die Direktorin der Dresdner Gemeinschaftsschule Albertstadt, Miriam Bankert, führt ein weiteres Hindernis an. Anders als in anderen Bundesländern müsse in Sachsen die Schulleiterstelle für eine Gemeinschaftsschule neu ausgeschrieben werden, wenn eine Schule dieses Modell übernehmen möchte. "Am Ende weiß man nicht, ob man die Stelle bekommt", meint Bankert. Entsprechend zurückhaltend seien Rektorinnen und Rektoren gegenüber der neuen Schulform.

Das Kultusministerium kann diese Sorge nicht nachvollziehen, wie eine Sprecherin sagte. Bei der Universitätsschule in Dresden sei die Schulleiterin nach der Umwidmung zur Gemeinschaftsschule auch wieder zum Zug gekommen. Zudem gebe es für Schulleiter in Sachsen - ähnlich wie bei Lehrern - viele offene Stellen.

Verein: Thüringen bei Gemeinschaftsschule weiter

Vorbilder in Sachen Gemeinschaftsschule sieht der Vorsitzende des Vereins "Gemeinsam länger lernen in Sachsen" im Nachbarland Thüringen. Dort gebe es Beraterinnen und Berater, die konkret bei der Umwandlung in Gemeinschaftsschulen und bei der Erarbeitung didaktischer Konzepte unterstützten.

"Ein konkretes Ausloten, Ermutigen und Begleiten von bestehenden Schulen, die die Voraussetzungen erfüllen, statt darauf zu warten, dass sich Schulen in Bewegung setzen, würde der Entwicklung zu Gute kommen", so Berndt. Mit über 60 Gemeinschaftsschulen habe Thüringen inzwischen viel Erfahrung und es ließen sich dort "viele gute Entwicklungen beobachten".

MDR (kbe/MDR SACHSENSPIEGEL)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 10. Januar 2023 | 20:00 Uhr