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Doppel-InterviewWas bleibt nach Lützerath? Zwei Klimaaktivisten aus Leipzig über ihre Proteste

19. Januar 2023, 05:30 Uhr

Tausende Menschen sind am vergangenen Wochenende nach Lützerath gefahren, um gegen die Abbaggerung des Dorfes zu demonstrieren und die Aktivisten zu unterstützen, die das Dorf besetzt hatten. Auch aus Sachsen fuhren mehrere Busse nach Nordrhein-Westfalen. Mit dabei auch Lene und Martin aus Leipzig - die eine neu im Klimaaktivismus, der andere seit Jahren dabei. Im Gespräch mit MDR SACHSEN erklären sie, warum sie die Proteste in NRW unterstützt haben.

Martin ist 33 Jahre alt und seit Juni 2019 in der Klimabewegung aktiv. Dazu gekommen ist er über den BUND Leipzig, bei dem er inzwischen auch stellvertretender Vorsitzender ist. Er engagiert sich außerdem in verschiedenen Arbeitskreisen und bei "Leipzig fürs Klima". Früher hat Martin als Entwicklungsingenieur gearbeitet - für eine Firma, die Schleifmaschinen vertreibt. Weil er einen Job wollte, bei dem er mehr mit Klimaschutz zu tun hat, arbeitet er ab Februar als Projektleiter für den Verein "Omas For Future".

Lene, 19 Jahre alt, studiert Psychologie im ersten Semester an der Universität Leipzig. Seit einem halben Jahr macht sie bei der Initiative "Students For Future" mit.

Frage: Warum sind Sie nach Lützerath gefahren?

Lene: Weil es absolut absurd ist, an diese Braunkohle ranzugehen. Ich begreife nicht, wie man einerseits das Pariser Klimaabkommen beschließen, als grüne Regierung sagen kann 'Wir tun alles Menschenmögliche, um die Klimakatastrophe zu stoppen' und dann im Jahr 2023 trotzdem ein Dorf abbaggert. Für Kohle, die man gar nicht braucht, um die Energieversorgung zu sichern. Klar, es gibt Studien, die dafür sprechen. Es gibt aber auch einige, die dagegen sprechen. Ich finde, dass man alles dafür tun sollte, dass die Brennstoffe im Boden bleiben.

Ich weiß, es gibt die Argumentation, dass Lützerath nun mal Eigentum von RWE ist und es Eigentum zu schützen gilt. Aber das durch die Klimakatastrophe bedrohte Leben ist für mich das höhere Gut.

Ich finde auch wichtig klar zu machen, dass es nicht nur ums Klima geht, sondern dass wir auch Leben zerstören, weil Leute ihre Heimat verlassen müssen.

Lene | Studentin und Klimaaktivistin aus Leipzig

Martin: Ich bin hingefahren, weil ich - obwohl vorher schon klar war, dass Lützerath abgebaggert wird - einfach mal dort sein und meinen Teil beitragen wollte, bevor es diesen Ort nicht mehr gibt. Denn auch, wenn rein rechtlich gesehen, alles abgesichert ist, ist es moralisch und ökologisch gesehen absolut falsch. Mir ging es darum zu zeigen, dass ich damit nicht einverstanden bin. Wenn ich in vielen Jahren meinen Kindern und Enkeln erklären muss, warum gerade Bürgerkrieg herrscht oder katastrophale Hitzewellen und Überflutungen über unsere Erde fegen, dann will ich ihnen auch sagen können, dass ich nicht nur untätig zugeschaut habe.

RWE wurde das Eigentumsrecht zugesprochen. Es war also klar, dass Lützerath sehr sicher abgebaggert wird. Wozu dann die Aktion? Was war der Sinn?

Lene: Ich denke, wenn es keine Blockade gegeben hätte, dann hätte es so ausgesehen, als seien mit der Entscheidung Lützerath abzubaggern alle einverstanden gewesen. Das war aber nicht der Fall. Ich glaube, in einer Demokratie ist es wichtig, dass man äußern kann, dass bestimmte Entscheidungen nicht in Ordnung sind. Dadurch, dass so viele Menschen dort waren, hat Lützerath sehr viel Aufmerksamkeit bekommen. Und ich finde auch wichtig, klar zu machen, dass es nicht nur ums Klima geht, sondern dass wir auch Leben zerstören, weil Leute ihre Heimat verlassen müssen. Wenn man vor diesem unfassbar großen Loch steht, weiß man, das kann so alles nicht richtig sein.

Ich verstehe die Verzweiflung, die Menschen dazu treibt, sich anzukleben, anzuketten, etc. Wer Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema will, muss scheinbar polarisieren.

Martin | Stellvertretender Vorsitzender BUND Leipzig

Martin: In Deutschland hat man zum Glück das Recht, für seine Meinung einzustehen. Wenn man das nicht macht, ändert sich auch nichts. Auch wenn es für Lützerath selbst zu spät war, besteht die Hoffnung ja darin, dass die Politik erkennt, dass sehr viele Menschen mit ihrem Vorgehen nicht einverstanden sind. An Lützerath muss sich die Klimapolitik messen lassen. Das Dorf ist ein Symbol, das zeigt, dass die Politik den Weg, den sie gehen müsste, nicht entschieden genug beschreitet.

Aber geht es nicht letztlich darum, die Energieversorgung für Deutschland zu sichern?

Martin: Die Kohle unter Lützerath abzubaggern, ist für die Energieversorgung nicht notwendig, da gibt es mehrere Studien zu. Die Technische Universität Berlin und Forscher von der Europa Universität in Flensburg haben ein Gutachten erstellt, das zeigt: Selbst wenn wir bis 2030 unter maximaler Auslastung Kohle verbrauchen würden, würden nur 271 Millionen Tonnen benötigt. Der Tagebau enthält schon ohne Lützerath über 300 Millionen Tonnen. Wir haben also jetzt schon Zugriff auf 30 Millionen Tonnen Kohle, die wir gar nicht brauchen.

Sich in Bäumen festketten, Blockaden bauen - ist diese Art von Protest zu radikal?

Martin: Einerseits finde ich, dass Protest immer friedlich ablaufen sollte. Andererseits sehe ich aber auch folgendes Phänomen: 2019, als friedlicher Protest noch neu war, haben die "Fridays For Future"-Demos Wellen geschlagen. Es hat sich etwas bewegt. Aber je normaler es wurde, dass Menschen auf die Straße gehen, desto langweiliger wurde es für die Medien und die Aufmerksamkeit verpuffte. Von daher verstehe ich die Verzweiflung, die Menschen dazu treibt, sich anzukleben, anzuketten, etc. Denn wer Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema will, muss ja scheinbar polarisieren.
Gleichzeitig habe ich Sorge, dass die Bewegung durch solche Aktionen den Rückhalt in der breiten Bevölkerung verliert und so unser möglicher Einfluss auf die Politik schwindet.

Lene: Radikal sein, heißt ja an die Wurzel eines Problems zu gehen. Und wenn das Problem sehr tief im Boden verankert ist, kann man gar nicht zu radikal sein. Dass Klimaaktivismus radikal ist, finde ich wichtig, weil wir einen radikalen Ausstieg brauchen. Ich finde dabei Gewalt nicht gut. Man muss aber auch wissen, von wem die Gewalt ausgeht und wo sie anfängt.

Wie stehen Sie zu der Gewalt gegen die Polizei, über die wiederholt berichtet wurde? Dass beispielsweise Steine auf die Einsatzkräfte geworfen wurden?

Lene: Das habe ich nicht gesehen, finde ich aber auch nicht gut, Pyrotechnik genauso. Was ich gesehen habe, waren unbewaffnete Leute, die von der Polizei scheinbar willkürlich geschubst und in den Bauch geschlagen wurden. Und das Auftreten der Polizei mit Helmen, Schlagstöcken und Uniform hat mir definitiv Angst gemacht.

Martin: Ich finde Gewalt gegen Polizisten nicht in Ordnung. Gleichzeitig finde ich aber auch viele Methoden, die die Polizei anwendet, nicht okay - also Tränengas, Schlagstöcke, Wasserwerfer.

Was bleibt nach der Räumung? Was haben die Proteste gebracht?

Martin: Naja, wir Klimaaktivisten sind natürlich erstmal enttäuscht. Bei der letzten Bundestagswahl, als die Grünen Teil der Regierung wurden, hatten wir alle eine gewisse Hoffnung, dass wir jetzt Klima-Politik erleben, die ihren Namen auch verdient. Aber die Politik ist eben noch nicht so weit, wie sie sein sollte. Das heißt nicht, dass wir jetzt aufgeben. Die Leute, die ich kenne, machen das aus Überzeugung und nicht nur so für einen Tag, weil sie gerade mal Lust dazu haben. Wir kämpfen für eine lebenswerte Zukunft und jedes Zehntelgrad, das wir durch unseren Protest mindern, rettet Menschenleben. Dafür lohnt es sich auf die Straße zu gehen.

Lene: Schwierige Frage. Hängen geblieben sind leider erstmal Bilder von Gewalt. Bei eher konservativen Leuten die Bilder von Gewalt gegen Polizisten und Polizistinnen und bei den aktivistischen Leuten die Bilder von Gewalt durch Polizisten und Polizistinnen. Worum es eigentlich geht, geht in der Berichterstattung leider unter. Aber dass wir die Abbaggerung nicht einfach so hingenommen haben, ist hoffentlich ein Zeichen für die Zukunft. Wenn kein Protest stattgefunden hätte, wäre das dramatisch gewesen. Ich bin nicht mit dem Gefühl nach Hause gefahren: "Cool, wir haben gerade die Welt gerettet", sondern eher mit dem Gedanken: "Gut, dass so viele Leute da waren und das nicht einfach hingenommen haben".

Anm. d. Red.: Die Gespräche mit Lene und Martin wurden separat geführt, dabei wurden allerdings die gleichen Fragen gestellt. Zur Vergleichbarkeit und besseren Lesbarkeit wurden ihre Antworten hier zusammengeführt.

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