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Für viele Schulkinder bedeutet die Bildungsempfehlung Stress. Ist sie Zehnjährige überhaupt schon sinnvoll?(Symbolbild) Bildrechte: picture alliance/dpa

SchullaufbahnGymnasium oder Oberschule: Von der Unsicherheit nach der Bildungsempfehlung

14. Januar 2023, 18:00 Uhr

Am 10. Februar werden in diesem Jahr die Bildungsempfehlungen für die Schülerinnen und Schüler der 4. Klasse in Sachsen ins Haus flattern. Eine Überraschung, welche Schulform die Lehrkraft dem Kind empfiehlt, wird es wahrscheinlich in den seltensten Fällen sein. Schließlich gehen Gespräche voraus und auch der Notenschnitt ist festgelegt. Die Wahl treffen schlussendlich die Eltern, aber wie sinnvoll ist das frühe Selektieren der Kinder eigentlich? Das fragt sich MDR SACHSEN-Reporter Benjamin Jakob.

Auf welche weiterführende Schule soll mein Kind gehen? Diese Frage beschäftigt aktuell wieder viele Eltern in Sachsen. Vor einem Jahr stand ich an dieser Stelle. Mein Sohn war da gerade zehn Jahre alt. Weder hochbegabt noch hat er Lernschwächen. Er war und ist auch heute noch verspielt, verträumt gelegentlich. Leicht abzulenken, wenn etwas langweilig ist, wahnsinnig interessiert, wenn etwas Spannendes passiert. Wahrscheinlich erkennen Sie Ihr Kind dabei wieder.

Bevor die Bildungsempfehlung mit dem Halbjahreszeugnis nach Hause kam, stand für uns ein Gespräch mit der Klassenlehrerin des Kindes an. Wir sprachen über die Stärken und Schwächen meines Sohnes, die Interessen und welcher Bildungsweg wohl der richtige sei.

Bereit fürs Gymnasium?

Auf dem Gymnasium wird, so ließ es die Grundschullehrerin durchblicken, Eigenständigkeit verlangt. Saubere Heftführung. Ruhiges Arbeiten, einlesen. Und ich stellte mir die Frage, ob das denn passt. Ob mein Sohn schon bereit für "den Ernst des Lebens ist". Trotzdem blieb der Eindruck, dass das eher spielerische Lernen der Grundschule ruhig noch ein, zwei Jahre hätte weitergehen können. Das Gefühl, was mich auch heute noch begleitet, ist, dass die Wahl der weiterführenden Schule zu früh kommt.

Soziale Bindungen fallen weg

So gehe es vielen Eltern und Kindern zum Ende der 4. Klasse, sagt Marcella Riebe-Simmank. Sie ist Schullaufbahnberaterin an einer Grundschule in Dresden. "Es gibt Kinder, die brauchen beispielsweise lang, um soziale Beziehungen aufzubauen. An denen hält man gern fest. Und es ist ein schwerer Schritt, sich nach der 4. Klasse neu zu orientieren. Aber ein Kind, was das einmal geschafft hat, findet auch ein zweites Mal seinen Platz", beruhigt sie.

Wenn sie sich etwas vom Bildungssystem wünschen könnte, wäre es, dass die Kinder, die etwas länger für soziale Bindungen und geistige Reife brauchen, die Möglichkeit bekämen, noch ein Jahr an der Grundschule zu verbleiben, sagt sie.

Kultusministerium setzt auf Durchlässigkeit

Das sächsische Kultusministerium ist sich nach eigener Aussage der Individualität der Schülerinnen und Schüler durchaus bewusst und sagt, dass ein gegliedertes Schulsystem "flexible Bildungswege" ermöglichen würde. Es sei wichtig, dass ein Wechsel in jegliche Richtung jederzeit möglich sei.

Die elterliche Verantwortung ist besonders gefragt.

Gerald Heinze | Kultusministerium Sachsen

Gerald Heinze, beim sächsischen Kultusministerium verantwortlich für allgemeinbildende Schulen sagt, die Annahme, dass mit der Auswahl der weiterführenden Schule nach der vierten Klasse der Lebensweg vorbestimmt ist, sei falsch. "Das sächsische System ist so gestaltet, dass jeder in Abhängigkeit der persönlichen Entwicklung Möglichkeiten habe. Wie beispielsweise das Abitur später zu erwerben", so Heinze. Oberschulen hätte gute Verbindungen - vor allem zu beruflichen Gymnasien - um Jugendlichen mit einem guten Realschulabschluss ein Abitur zu ermöglichen.

Und auch der möglichen Überforderung von Kindern am Gymnasium werde so Rechnung getragen. "Hier ist insbesondere die elterliche Verantwortung gefragt, vor allem was die Stärken und Schwächen des eigenen Kindes angeht", sagt er.

Nur wenige wechseln nachträglich die Schule

Doch wie oft kommt so ein Wechsel vor? Aus der sächsischen Schulstatistik geht hervor, dass rund 1,5 Prozent der Schüler vom Gymnasium an die Oberschule und sogar nur 0,5 Prozent der Oberschüler ans Gymnasium wechseln.* (Stand: Schuljahr 2021/22) Ein sehr geringer Teil der Schülerschaft entscheidet sich also, die Durchlässigkeit des Systems zu nutzen. Das zeigt sich auch an den Abschlusszahlen der Schulen des zweiten Bildungswegs. Nur 195 Personen haben auf diesem Weg im Jahr 2021 die allgemeine Hochschulreife erworben.

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Schulwechsel können glücklich machen

Ein nachträglicher Wechsel der Schule sei emotional ähnlich aufwühlend wie einer nach der vierten Klasse, sagt die Schullaufbahnberaterin Marcella Riebe-Simmank. Egal in welche Richtung. Wahrscheinlich gehen deshalb so wenige einen neuen Weg. Riebe-Simmank sagt aber, sie kenne viele positive Beispiele. "Ich habe in den letzten Jahren so viele Empfehlungen mit begleitet, habe Kinder gesehen, die an Gymnasien gegangen sind, dann noch mal den Weg verändert haben und durchaus glücklich geworden sind."

Gemeinschaftsschulen als Lösung?

Für Kinder und Eltern, die skeptisch auf einen frühen Schulwechsel blicken, gibt es in Sachsen seit 2020 auch den Weg der Gemeinschaftsschule. Hier werden Kinder bis zur 12. Klasse gemeinsam unterrichtet. Die Wahl des Abschlusses fällt erst am Ende der Schullaufbahn. Allerdings gibt es im Freistaat derzeit nur drei dieser Einrichtungen, zwei in Dresden und eine in Leipzig. Für Schülerinnen und Schüler, die mit der derzeit gewählten Schulform unglücklich sind, bleibt nur der Wechsel.

Platz für jedes Kind

Ob es bei meinem Kind dazu kommt, wird sich zeigen. Bisher schlägt er sich gut auf dem Gymnasium. Die Gespräche mit Experten haben mir etwas die Unsicherheit genommen. Denn auch wenn das Bildungssystem von außen sehr starr scheint, ist nichts so sehr in Stein gemeißelt, wie es wirkt. Trotzdem - und da sind sich die Experten und Bildungsforschenden einig - kommt die Trennung der Kinder aus Sicht der persönlichen und intellektuellen Entwicklung oft zu früh. Gemeinschaftsschulen und andere Einrichtungen, die versuchen, das aufzufangen, sind derzeit noch deutlich unterrepräsentiert. Aber es bewegt sich etwas in der Schullandschaft und das macht Mut. In Zukunft findet dann hoffentlich jedes Kind seinen Weg und seinen Platz, egal an welcher Schule.

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