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Bei "Fakt ist! aus Erfurt" ging es am Montagabend um die Unzufriedenheit mit der Demokratie und den Vertrauensverlust in staatliche Institutionen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

FAKT IST! aus ErfurtSchlechtes Zeugnis für die Demokratie? Ostdeutsche hadern mit dem Staat

06. Juni 2023, 09:57 Uhr

Schwindendes Vertrauen in den Staat und Unzufriedenheit mit der Demokratie: Ostdeutsche fühlen sich laut Thüringen-Monitor abgehängt und benachteiligt. Ursachen und mögliche Perspektiven waren am Montagabend Thema im MDR-Talk "FAKT IST! aus Erfurt".

von Christian Franke, MDR THÜRINGEN

"Also ich persönlich bin durchaus zufrieden im Moment mit der Demokratie. Ich zähle mich nicht zu den Menschen in Thüringen, die sich abgehängt fühlen", sagt Steven Büchner und ergänzt: "Ich kann aber durchaus Menschen hier in Thüringen verstehen, die sich abgehängt fühlen."

Etwa die Hälfte der Thüringerinnen und Thüringer ist unzufrieden mit der Demokratie. Das ist die zentrale Erkenntnis des aktuellen politischen Stimmungstests, dem Thüringen-Monitor. Demnach ist auch das Vertrauen der Ostdeutschen in staatliche Institutionen gesunken. Über mögliche Ursachen, Stadt-Land-Unterschiede und Beteiligungsmöglichkeiten wurde am Montagabend im MDR-Talk "FAKT IST! aus Erfurt" diskutiert.

Studiogast Steven Büchner kommt aus der Gemeinde Nesse-Apfelstädt im Landkreis Gotha. Eine Region, die der Thüringen-Monitor als ländlich ausweist. Lediglich Jena und Erfurt gelten als städtisch. Alle übrigen Teile Thüringens sind - mit Abstufungen - ebenso als ländlich kategorisiert. Und gerade in diesen Regionen scheint das Gefühl, abgehängt zu sein, präsenter zu sein als in den Städten.

Unzufriedenheit im Kyffhäuserkreis

Aber wie kommt das? Dafür hat Antje Hochwind-Schneider (SPD) mehrere Erklärungen. Sie ist Landrätin des als "sehr ländlich" beschriebenen Kyffhäuserkreises. Dort sind die Einwohner laut Thüringen-Monitor am unzufriedensten mit der Demokratie.

"Ich denke, es hängt damit zusammen, dass im direkten Vergleich - auch mit den Städten - die Möglichkeiten der ländlichen Bevölkerung eingeschränkter sind", sagt Hochwind-Schneider. Als Beispiel nennt sie den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und Versorgungsmöglichkeiten. "Insbesondere ist der ÖPNV ein Thema, weil wir jetzt ja gerade deutschlandweit über das 49-Euro-Ticket reden. Da höre ich ganz oft von unseren Bürgern, dass sie sagen: Das nützt für uns nichts, weil ich das im Ländlichen gar nicht so einsetzen kann." Laut Landrätin fühlen sich die Bürger dadurch abgehängt und benachteiligt. Aber kann das allein zu Unzufriedenheit mit der Demokratie führen?

Ich denke, es hängt damit zusammen, dass wir ganz anders mit unseren Bürgern ins Gespräch kommen.

Antje Hochwind-Schneider | Landrätin Kyffhäuserkreis

"Ich höre auch ganz oft in Gesprächen mit Bürgern, dass es auch viele gibt, die zufrieden sind mit den anderen Dingen, die die ländliche Region ausmachen und die ein Vorteil sind", berichtet die Landrätin. Sie nehme nicht wahr, dass ein Großteil der Bevölkerung unzufrieden ist.

Es gebe Dinge, die im Ländlichen schlechter gestellt sind, und es werde versucht, die Situation mit Angeboten zu verbessern. In gewissen Fragen würden sich aber auch Landräte und Bürgermeister wünschen, mehr Gehör zu finden. Beispielsweise bei den Kosten der Asylpolitik. Wie aus dem Thüringen-Monitor außerdem hervorgeht, herrscht Unzufriedenheit vor allem in Bezug auf die Landes- und Bundespolitik. Die Kommunalpolitik schneidet besser ab. "Ich denke, es hängt damit zusammen, dass wir ganz anders mit unseren Bürgern ins Gespräch kommen", meint Landrätin Hochwind-Schneider.

Entfremdung durch wachsende Distanz?

Dafür, dass es auch auf Landesebene einen Austausch mit den Bürgern gibt, ist unter anderem Michael Hasenbeck verantwortlich. Er leitet das Stabsreferat Bürgeranliegen in der Thüringer Staatskanzlei. Dort werden nicht nur Anliegen und Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern bearbeitet. Zugleich ist es die Landesservicestelle für Bürgerbeteiligung.

Laut Hasenbeck liefen vor der Corona-Pandemie rund 400 Vorgänge pro Jahr ein. Dann sei die Zahl auf jährlich bei 4.200 beziehungsweise 3.500 Anliegen gestiegen. Inzwischen seien es noch etwa 1.000 bis 1.100. "Es ist mehr geworden und es ist auch richtig, dass es mehr geworden ist. Denn wenn Unzufriedenheit da ist, muss sie artikuliert werden", sagt Hasenbeck. Das gelte nicht nur gegenüber der Politik, sondern auch gegenüber der Verwaltung. In der Verfassung gebe es das Petitionsrecht, damit sich Menschen mit Bitten, Beschwerden und Anregungen an die Regierung, den Landtag oder den Bürgerbeauftragten wenden können.

Ich finde, wir müssen deutlich unterscheiden zwischen Demokratiezufriedenheit (...) und konkreten Fragen im Alltag.

Michael Hasenbeck | Leiter Stabsreferat Bürgeranliegen

Ärger über Kommunikation mit der Verwaltung

Dass das in der Praxis nicht immer funktioniert, berichtet Studiogast Heiko Rudolph aus Tambach-Dietharz im Landkreis Gotha. Seine Mutter habe ein Schreiben zu den Wohn- und Besitzverhältnissen seines verstorbenen Vaters erhalten. Eine anschließende Beschwerde sei bis heute nicht beantwortet worden.

Eine "von-oben-herab"-Mentalität beklagt er zudem in der Verwaltung. "Umso höher die Politikebene, um so mehr Distanz ist da - auch Establishment-Denken, und das ist das, was den Leuten bis 'hier' steht ", sagt Rudolph. "Der Fisch stinkt generell immer zuerst am Kopf", meint auch Studiogast Heike Puhl. Ihrer Ansicht nach sind etwa Ministerposten falsch besetzt. Dort fange die Unzufriedenheit mit Politik an.

"Ich finde, wir müssen deutlich unterscheiden zwischen Demokratiezufriedenheit (...) und konkreten Fragen im Alltag", antwortet Michael Hasenbeck von der Thüringer Staatskanzlei. Es gebe viele Strukturen, die für die Bürgerinnen und Bürger da sind. Aber wenn jemand, der tot ist, solch ein Schreiben zur Grundsteuer bekomme, dann sei das auch in Masseverfahren nicht schön.

Teils unrealistische Erwartungen an die Demokratie

"Die ostdeutsche Gesellschaft hadert auch mit sich selbst", meint der Kultursoziologe Alexander Leistner von der Universität Leipzig. Unzufriedenheit habe sich gegenüber Politikern teilweise feindbild- und klischeehaft verselbstständigt. Was konkrete Probleme des Alltags angehe, sei es auch eine Frage von realistischen und unrealistischen Erwartungen an die Demokratie - und was sie in diesem Bereich leisten kann.

Dass sich dahingehend schon etwas getan hat, meint Michael Hasenbeck. Als Beispiel nennt er Mängelmelder, die in einigen Kommunen bereits existieren. "Zugegeben, das ist noch nicht da, wo es hin soll. Aber man kann sehen, wie der Bearbeitungsfortschritt ist, wenn Sie melden, dass der Kanaldeckel fehlt."

Eine andere Frage sei aber auch, wie viel die Menschen tatsächlich über ihre Rechte, Möglichkeiten und Eigenverantwortung informiert werden: "Sie haben viele Kanäle (...), um Zugang zu Politik und Verwaltung zu finden - und es klappt nicht immer. Aber es gibt die Möglichkeiten", sagt Hasenbeck.

Demokratie als Mitmach-Veranstaltung

"Unzufriedenheit kann sich aus verschiedenen Dingen speisen, wie der Verwaltung (...) Die andere Seite: Als emanzipierter Bürger in einer Demokratie ist es auch wichtig, mitzumachen und zu sagen: Wenn mir das nicht gefällt, dann werde ich selber Bürgermeister oder Bürgermeisterin", sagt die Politikwissenschaftlerin und Autorin Judith Enders.

Es sei aber auch möglich, dass die Unzufriedenheit aus einer anderen emotionalen Ecke komme, die nicht oder nur am Rande mit der Politik zu tun habe. Etwa mit Dingen, die man selbst erlebt hat oder damit, wie Politiker einem begegnet sind. "In Ost- und Westdeutschland gibt es bestimmt Unterschiede, wie man die Politik wahrnimmt und ob man sich als Bürgerin oder Bürger ernstgenommen fühlt. Und auch, ob man sich gewürdigt fühlt."

Spezifisch ostdeutsche Erfahrungen werden ein Stück weit auch politisch bewirtschaftet.

Alexander Leistner | Kultursoziologe

Gerechtigkeitsempfinden sei auch etwas Emotionales und es bestehe die Möglichkeit, sich in bestimmte Dinge reinzusteigern. Aber in einer Demokratie könne man sich überlegen, wie man seinem Unbehagen Ausdruck verleihe. "Wir können erstens wählen gehen (...), wir können demonstrieren, wir können eine Bürgerinitiative gründen oder sonst wie in unserer Region aktiv werden."

Gleichzeitig dürfe man nicht verkennen, was das Gefühl auslöse, ungerecht behandelt worden zu sein. Es sei dann aber auch wichtig abzugleichen, was gemeint ist: Politik, Demokratie, Verwaltung oder das eigene Engagement.

Gefahr des Populismus mit Blick auf "die Elite"

"Spezifisch ostdeutsche Erfahrungen werden ein Stück weit auch politisch bewirtschaftet", meint der Kultursoziologe Leistner. Es gehe um das Bild von einer Elite, die zur Verantwortung gezogen werden müsse.

"Das ist auch ein Kernbestand von Populismus. (...) Die Proteste der letzten Jahre in Ostdeutschland haben die Form von Tribunalen angenommen. (...) Wir haben eine so aufgeheizte gesellschaftliche Situation, wo sich diese feindbildhafte Elitenkritik verselbstständigt hat. (...) Da verknüpft sich auch die Frage: Hat noch jemand Lust, sich zu engagieren?"

Möglichkeiten der Mitbestimmung

Mehr direkte Demokratie wünscht sich Bernhard Haupt aus Schmalkalden. Die Schweiz sei dahingehend sein Vorbild. "Es kann nicht eine Partei oder kleine Gruppe Grundsatzentscheidungen treffen, die das ganze Volk dann tragen muss", meint er.

Weil diese Möglichkeiten, in Dialog zu treten, kaum da sind. Und da fällt es schwerer, Inhalte zu transportieren.

Antje Hochwind-Schneider | Landrätin Kyffhäuserkreis

Aber woher kommt das Gefühl, dass ein kleines Grüppchen über alle entscheidet? "Ich denke, da muss man auch nach den Themen differenzieren", sagt Landrätin Hochwind-Schneider. Es gebe immer wieder Möglichkeiten, vor Ort mitzubestimmen.

Als Beispiel nennt sie die Schulnetzplanung. "Das sind Themen, die wir vor Ort gestalten. Und da komme ich auch mit unseren Bürgern ganz konkret ins Gespräch. Da höre ich die Probleme und die Sichtweisen. Und wir können das entsprechend in unseren Planungsprozessen aufgreifen."

Auf Bundesebene sei so etwas aber schwieriger: "Weil diese Möglichkeiten, in Dialog zu treten kaum da sind. Und da fällt es schwerer, Inhalte zu transportieren." Mitmachen und Entscheiden sei durch die Demokratie für alle aber prinzipiell möglich.

Tipp: Blick in die Kommunalordnung

Ein Punkt, den auch Michael Hasenbeck aus Sicht der Verwaltung deutlich macht. "Warum gucken Sie nicht in unsere Kommunalordnung? Dort haben wir Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Da kann man drüber streiten, ob die Hürden zu hoch sind. (...) Für Ihre kommunale Familie können Sie sich engagieren, indem Sie Anträge und Anregungen einbringen, schon über die Kommunalordnung. Wir haben eine Thüringer Landesverfassung. Dort sind das Volksbegehren und der Volksentscheid drin. Auch diese Instrumentarien stehen den Bürgern in der mittelbaren Demokratie als Elemente der unmittelbaren Mitbestimmung zu."

Man könne dann auch darüber streiten, ob das zu viel oder zu wenig ist oder ob Bürgerinnen und Bürger auch über den Haushalt des Landes entscheiden dürfen oder nicht. "Das wäre der politische Dialog", meint Hasenbeck.

Zu hohe Hürden auf kommunaler Ebene?

Dass auch Bürgerinnen und Bürger in der Pflicht sind, sich Beteiligungsmöglichkeiten zu erschließen, meint auch Studiogast Steven Büchner. Es könne allerdings nicht von jedem erwartet werden, sich in sämtlichen Gesetzbüchern auszukennen. "Da wird der Mensch auch gern mal überfordert. Ich finde, es muss viel niedrigschwelligere Angebote zum Mitmachen geben - gerade auch auf kommunaler Ebene", meint er. Es könne nicht sein, dass die pauschale Antwort ist, ein Volksbegehren zu initiieren.

In einer "Scheindemokratie" sieht sich dagegen Studiogast Frau Puhl. Wahlen seien "rückgängig gemacht" worden. "Sicherlich war das eine ganz unglückliche Situation", sagt die Politikwissenschaftlerin Judith Enders. Es sei aber eine repräsentative Demokratie, in der sich nach der Wahl aus dem Parlament eine Regierung findet. "Da haben die Parteien untereinander ein echtes Kommunikations-Desaster inszeniert. Kemmerich ist ja nun nicht rausgetragen worden, sondern er ist zurückgetreten als Person. Das musste er schon selber tun. Das war wirklich nicht schön." Es sei eine wichtige Grundlage, dem Parlament zu vertrauen, das dann auch die Regierung kontrolliert.

Ein Fazit zieht Michael Eberhard aus Blankenhain im Kreis Weimarer Land. "Für mich funktioniert Demokratie eigentlich, aber wir sind selber dafür verantwortlich, wie wir Demokratie leben, gerade was Meinungsfreiheit angeht." Es sei wichtig, dass auch andere Meinungen akzeptiert werden, und dafür nicht in Ecken gestellt zu werden, in die man nicht gehöre.

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MDR (cfr)

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Fakt ist! aus Erfurt | 05. Juni 2023 | 22:10 Uhr

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