Ukraine-KriegVon Bomben und Flucht: Der neue Krieg weckt alte Ängste bei Senioren
Die Fernsehbilder aus der Ukraine sind für viele schwer zu verkraften - doch ungleich stärker belasten sie diejenigen, die noch erlebt haben, was Krieg bedeutet. In der Kriegsgeneration haben die vergangenen Wochen längst vergessene Erinnerungen und uralte Ängste zu neuem Leben erweckt; so auch in Gebesee im Landkreis Sömmerda.
Mitten in der Nacht tappen verirrte Schritte durch den Flur. Sie hallen durch die Stille des schlafenden Hauses. "Wo muss ich hin?", fragt die verängstigte alte Dame, als eine Schwester herbeieilt. "Wohin? Wo geht es denn in den Schutzbunker?", fragt sie und klammert sich an ihren Rollator, auf dem eine Tasche liegt, in die sie ihr wichtigstes Hab und Gut gestopft hat.
An einem anderen Tag schreckt ein alter Herr aus seinem Sessel und ruft: "Jetzt kommen sie! Jetzt kommen sie auch zu uns und dann fliegt uns hier alles um den Kopf!" Eine Pflegerin redet beruhigend auf ihn ein. Das seien nur Bilder im Fernsehen, das sei nicht bei uns. Doch der Herr schüttelt den Kopf und glaubt ihr nicht: "Das kannst du gar nicht sagen", ruft er.
Die Kriegsgeneration schweigt bis heute
Es sind Szenen wie diese, die sich seit rund drei Wochen im "Haus zum guten Hirten" häufen. Im Altenpflegeheim der Diakonie in Gebesee leben derzeit 63 Menschen, von denen die meisten den Zweiten Weltkrieg als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene erlebt haben. "Als sie die Bilder im Fernsehen gesehen haben, haben unsere Bewohner den Kopf geschüttelt und Angst bekommen", erzählt mir Angelika Weirich, die das Pflegeheim seit 2020 leitet. "Diese Fassungslosigkeit, dass der Krieg so nah bei uns ist und diese Ohnmacht, die sie damals auch gespürt haben, die sind ganz präsent."
Doch obwohl die Gefühle von damals gerade wieder so stark werden, fällt es der Kriegsgeneration bis heute schwer, diese zu verarbeiten. Das Schweigen, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg über das Land legte - teils aus Scham, teils aus der Notwendigkeit sich dem Wiederaufbau zu widmen - hat bis heute gehalten. "Die Menschen mussten damals viel mit sich selber ausmachen und das merkt man jetzt auch", sagt Weirich. Angesichts der Bilder in der Ukraine lehnten viele Heimbewohner deshalb Gesprächsversuche ab. Besonders schlimm sei es auch für Demenzkranke und für die, die sich nicht mehr richtig artikulieren könnten. "Die haben zwar Emotionen und Gefühle, aber das bleibt dann drin", sagt Weirich, "wir lernen jetzt erst, darüber zu sprechen."
Das Schweigen durchbrechen
Jeden Dienstag oder Freitag gibt es in der kleinen Kapelle des Pflegeheims einen kleinen Gottesdienst. Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin kommt ins Heim und spricht in der kleinen Kapelle des Pflegeheims über Gott und die Welt. Normalerweise lauschen die Bewohner und Bewohnerinnen dann einfach nur den Worten. Doch vor zwei Wochen änderte sich das. Das Thema der Andacht war "Krieg und Frieden" und der Krieg in der Ukraine war da gerade eine Woche alt. An diesem Freitag vor zwei Wochen fingen sie an zu sprechen, berichtet Weirich. Das Schweigen wurde durchbrochen.
"Das hat ihnen sehr gut getan", sagt Weirich, die diese Gesprächsangebote im Heim gern weiter aufrechterhalten will. Deshalb stimmte sie überhaupt erst der Anfrage von MDR THÜRINGEN zu und erlaubte mir, mit den Heimbewohnern zu sprechen. Denn normalerweise ist das Pflegeheim coronabedingt nur für Angehörige und Mitarbeiter zugänglich.
Und so sitze ich - geimpft und frisch getestet - an diesem Montag mit gleich zehn Bewohnerinnen und Bewohnern in der kleinen Kapelle. Jeder und jede von ihnen verfügt über doppelt oder dreimal so viel Lebenserfahrung wie ich. Was sie mir zu berichten haben, ist bewegend und könnte fast eins zu eins auch von Geflüchteten aus der Ukraine stammen.
Von Bombenkrieg und Flucht
"Bomben, die kamen ja immer mit Bomben, die Flugzeuge", erzählt Christa Fritsche. Als 15-Jähriges Mädchen ließ sie immer alles stehen und liegen, wenn Fliegeralarm war. "Aufstehen und ab in den Keller. Das war die einzige Rettung", erzählt die 92-Jährige. Christa Fritsche erlebte das Ende des Zweiten Weltkriegs in Chemnitz. In einer Bombennacht 1945 verlor sie damals ihr Zuhause: "Die Fenster und Türen waren ja alle kaputt. Grausam war das. Das möchte ich nie wieder erleben", sagt sie, während ich Bilder aus Charkiw vor Augen habe, die eine Wohnung nach einem Raketentreffer zeigen.
Sonja Schmidt, die mit fast 97 Jahren die Älteste in der Runde ist, erzählt mir von der Flucht. Sie gehörte zu den rund 686.000 Ostvertriebenen, die in Thüringen nach 1945 ein neues Zuhause finden mussten. Geboren ist sie bei Breslau, ihr Leben nach dem Krieg begann mehr als 500 Kilometer weiter westlich in Georgenthal. "Viele waren damals erstmal entsetzt in Thüringen, wie viele da aus dem Osten kamen", erinnert sie sich. Neu anfangen zu müssen und "buchstäblich nichts" zu haben - sie hat das erlebt und fühlt deswegen mit den Geflüchteten aus der Ukraine: "Ich finde das richtig, das die hier erstmal eine Bleibe haben. Ich finde das ganz grausam, was da jetzt passiert, weil man das ja selbst erlebt hat. Ich kann da manchmal gar nicht hingucken", sagt sie und ich denke an die Szenen von weinenden ukrainischen Müttern an der polnischen Grenze.
"Putin hat kein Herz. Der sollte sich was schämen!"
Als kleiner Junge erlebte Uwe Schurig aus Sömmerda das Kriegsende. Es war ein Ende mit Schrecken, denn als Vierjähriger musste er miterleben, wie seine Schwester 1945 durch eine Tellermine schwer verletzt wurde. Dass sie überlebte, grenzt an ein Wunder. Sie blieb fürs Leben gezeichnet und auch der heute 80-Jährige konnte seither nicht vergessen. Dass Putin sogar Kinderkrankenhäuser angreifen lässt, macht ihn fassungslos: "Das kann man sich nicht vorstellen. Putin ist der Hitler Russlands", sagt er und in meinem Kopf sind die Bilder, der angegriffenen Entbindungsstation in Mariupol.
Kinder angreifen - wer ist zu sowas fähig, außer das personifizierte Böse? Normalerweise lehne ich Hitler-Vergleiche ab, weil sie mir deplatziert und relativierend erscheinen, hier aber wage ich es nicht, zu widersprechen. Uta Schwebler nickt bei Schurigs Worten. Die 82-Jährige sieht das ganz genauso: "So wie er es mit den Leuten macht, so müsste man es mit ihm machen", sagt die Stotternheimerin. "Nicht einmal Wasser und Brot würde ich ihm wünschen. Der hat kein Herz. So ein Mensch... und geht noch in die Öffentlichkeit und setzt sich da hin. Der sollte sich was schämen", schimpft sie auf Putin.
Der Krieg der Bilder
Der Ukraine-Krieg ist knapp drei Wochen alt und wohl schon jetzt einer der am besten dokumentierten Kriege der Menschheitsgeschichte. Kriegsberichterstatter haben daran nur einen kleinen Anteil. Viel mehr sind es die Millionen von Smartphones, die sekündlich neue Bilder des Krieges produzieren und sie in die Welt schicken. Viele davon sind kaum zu verifizieren, doch die, die es in die Nachrichten schaffen, weil sie authentisch sind, zeigen, wie ein Land mit Tod und Vernichtung überzogen wird. Sie zeigen ein Leid, das so wenig mit meiner Lebensrealität in Deutschland zu tun hat, dass ich es mir gar nicht vorstellen kann. Die Menschen, die ich hier im "Haus zum guten Hirten" treffe, kennen dieses Leid aber und sie durchleben es in diesen Tagen noch einmal.
"Wir versuchen diese unglaubliche Nachrichtenflut, die jetzt auf die Menschen einprasselt, abzuwenden", sagt Angelika Weirich. Das Team höre deswegen mehr Musik mit den Bewohnern, lege öfter mal eine DVD ein oder spiele Brettspiele. Rund um die Uhr sei das aber nicht möglich, sagt Karin Große. Die Altenpflegerin fühlt sich, genau wie ihre Kollegin Wencke Pfeffer vom Sozialdienst, geradezu machtlos. Es gebe Bewohner, bei denen man plötzlich nicht mehr die Rollos zumachen dürfe, sagt Pfeffer: "Die haben Angst vor dunkeln Räumen. Die waren im Bunker oder Schutzkeller. Und das kommt alles wieder hoch."
Die Sorge einer Mutter
Pflegerin Karin Große wünscht sich deshalb weniger Kriegsberichte im Fernsehen: "Ich denke, so eine Volksmusiksendung, oder was alte Menschen eben gerne gucke, das sollte dann auch kommen." Sie spricht damit auf die vielen Spezialsendungen an, die das Programm unterbrechen oder feste Sendeplätze verschieben.
Doch der Wunsch, das Fernsehprogramm zu überdenken, ist vergleichsweise klein, zu dem, was sich Roswitha Müller wünscht: "Ich habe mein Leben gelebt, aber meine Kinder, die leben jetzt. Denen soll es nicht so ergehen, wie es uns als Kinder ergangen ist", sagt sie und all ihre Angst schwingt in diesen Worten mit. Sie blickt mich an. Ihre und auch meine Augen füllen sich mit Tränen. Dann sagt die 80-Jährige mit einer noch erstaunlich starken Stimme: "Das ist eine Sorge, die eine Mutter hat."
Anmerkung der Redaktion: Sonja Schmidt und Rosemarie Theuerkauf wollten keine Portraitbilder von sich sehen. Diesem Wunsch haben wir entsprochen. Die Bilder zu ihren Interviews zeigen deshalb Gemeinschaftsräume des Altenheims.
MDR (ask)
Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 16. März 2022 | 18:05 Uhr