Flüchtlingshilfe"Das ist unsere ukrainische Familie in Altenburg"
Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf seinen einstigen ukrainischen Bruderstaat hat sich auch das Leben in Altenburg verändert. In der Skatstadt leben inzwischen rund 1.400 Ukrainer, die sich allmählich in der Fremde einrichten. Für viele wird die Diaspora in Thüringen zur Heimat, weil kaum noch einer an ein baldiges Kriegsende glaubt. Ein Besuch bei der Ukrainehilfe in Altenburg.
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Am 24. Februar 2022 - dem Tag an dem Russland seinen verbrecherischen Angriffskrieg auf die Ukraine begann - ahnten Iryna Voroniuk, Vitalii und Yulia Rehent und Vasilisa Shiyan noch nicht, dass sie bald jeden Morgen in Altenburg aufwachen würden - einem kleinen Städtchen in Ostthüringen, mehr als 1.500 Kilometer entfernt von ihrer Heimat. Genau genommen wussten sie damals nicht mal, dass es dieses Altenburg überhaupt gibt. Am 24. Februar 2022 wussten sie nur eines: Jetzt muss es schnell gehen.
Für Iryna kam der Krieg über Nacht
"Wir hatten nur 15 Minuten", sagt Iryna traurig. Es fällt ihr schwer, über diesen Tag zu sprechen. "Als es angefangen hat, war ich zu Hause mit meiner Familie. Wir haben noch geschlafen", erzählt die 35-Jährige. Die Kämpfe hätten sie, ihre damals vierjährige Tochter Solomiya und ihren Mann Ivan aus dem Schlaf gerissen. "Russische Soldaten haben versucht, unsere Stadt zu, zu… occupation?" - "Einzunehmen?" - "Ja genau, einzunehmen! Wir haben die Bomben und Schüsse gehört. Es war sehr schrecklich."
Iryna lebte bis Kriegsbeginn mit ihrer Familie in Wyschhorod, einer Kleinstadt bei Kiew, die schon wenige Stunden nach dem völkerrechtswidrigen Grenzübertritt von der russischen Armee unter Beschuss genommen wurde. Eiligst packten sie die notwendigsten Sachen zusammen und flohen in Richtung Westen. Ihr Zuhause und die kleine Pizzeria, die sich Iryna über Jahre hinweg aufgebaut hatte, ließen sie zurück.
Wir hatten nur 15 Minuten. [...] Wir haben die Bomben und Schüsse gehört. Es war sehr schrecklich.
Iryna | flüchtete 2022 aus Wyschhorod in der Ukraine
Im Juni 2022 beschloß Iryna, die Ukraine endgültig zu verlassen. "Zunächst kamen wir ja noch in Lemberg unter, aber auch hier wurde dann bombardiert", erinnert sie sich. "Also bin ich mit Solomiya gegangen." Ivan hingegen musste bleiben. "Wir vermissen ihn sehr", sagt Iryna den Tränen nah und zeigt ein Bild auf ihrem Handy. "Er ist Reservist. Er könnte jeden Tag eingezogen werden."
Fremde werden Freunde und Familie
In Lemberg lernte Iryna im Juni 2022 zwei deutsche Nothelfer kennen, die für den Verein Ukrainehilfe Altenburg e.V arbeiten. Sie nahmen Iryna und Solomiya mit nach Altenburg, wo die Hilfsbereitschaft zu dieser Zeit hoch ist. Schon Ende Februar brachten unzählige Menschen Lebensmittel, Decken, Handtücher und vieles mehr, um Hilfskonvois zu bestücken oder Neuankömmlinge zu versorgen.
"Im März habe ich im Alten Rathaus angefangen, Lebensmittel zu verteilen und Handtücher zusammenzulegen", erinnert sich Sybille Nordhaus-Bauer an die Anfänge der Altenburger Ukrainehilfe. "Ich dachte, das machst du jetzt mal vier Wochen lang und dann ist es gut", sagt die 56-Jährige, die hauptberuflich als Lehrerin arbeitet. "Doch dann wurde ich dabei mit so vielen Emotionen konfrontiert, wie noch nie in meinem Leben."
Aus diesen Begegnungen sind Freundschaften geworden. Das ist unsere ukrainische Familie in Altenburg. Da kann man nicht einfach sagen, jetzt habe ich keine Lust mehr.
Sybille Nordhaus-Bauer | ehrenamtliche Helferin der Altenburger Ukrainehilfe
Auch Matthias Siegl half damals kurzentschlossen. Im März 2022 begleitete er einen der ersten Hilfskonvois aus Altenburg an die polnisch-ukrainische Grenze. Hier sah er, unter welchem Schock die ukrainischen Geflüchteten stehen und erlebte hautnah, was die europäische Solidarität für diese Menschen bedeutet. "Das hat sich bei mir auf der menschlichen Festplatte eingebrannt", sagt der 56-jährige IT-Anwendungsadministrator. "Das ist ein Erlebnis, was man nicht wieder vergisst."
Es dauert keine vier Wochen, da wurde beiden klar: Dieses Ehrenamt können und wollen sie nicht mehr abgeben. "Die Ukrainer bringen uns eine Herzenswärme entgegen, die uns allen gut tut", sagt Siegl. Nordhaus-Bauer pflichtet ihm bei: "Aus diesen Begegnungen sind Freundschaften geworden. Das ist unsere ukrainische Familie in Altenburg. Da kann man nicht einfach sagen, jetzt habe ich keine Lust mehr."
Ein soziokulturelles Zentrum zum Erhalt der ukrainischen Kultur
Fast zwei Jahre lang engagieren sich Sybille Nordhaus-Bauer und Matthias Siegl jetzt schon ehrenamtlich für Geflüchtete. Als Vorstandsmitglieder der Altenburger Ukrainehilfe e.V. sind sie hauptverantwortlich für das Begegnungshaus.
Am Rande der Altstadt hat der Verein einen Kindergartenbau aus den 60er-Jahren bezogen, den die Stadtverwaltung mietfrei zur Verfügung stellt. Die Dielen quietschen, an den Holztüren zieht es rein und in den alten Heizkörpern rumort es - trotzdem wirkt dieser Ort alles andere als kalt. Kinder laufen fröhlich über den Flur, in der Küche duftet es nach Kaffee und stets lächeln die Menschen.
Jeden Montag, Mittwoch und Freitag treffen sich hier Ukrainer und Altenburger zu gemeinsamen Nachmittagen. Neben der Gemeinschaftsküche und einer Ausgabestelle von Kleider- und Sachspenden gibt es eine Werkstatt, ein Spielzimmer, einen Therapieraum, ein Kindertheater und einen Aufenthaltsraum, in dem neuerdings ein Tischkicker steht. Es wird gemeinsam gespielt, gekocht und manchmal sogar gefeiert.
"Wir sehen unsere Aufgabe darin, die ukrainische Kultur zu bewahren, weil ja auch das ein russisches Kriegsziel ist: die ukrainische Nation zu vernichten", erklärt Nordhaus-Bauer. Von einer Sammelstelle für Sachspenden hat sich das Haus längst zu so etwas wie einem soziokulturellen Zentrum gemausert. Ukrainische Neuankömmlinge finden hier Hilfe und Anschluss. Sie bekommen kostenlos Möbel, Kleider und andere Haushaltsgegenstände. Die Ausgabe der Spenden organisiert Iryna Voroniuk.
Im Krankenwagen nach Altenburg
Vor anderthalb Jahren kamen auch Vitalii und Yulia Rehent nach Altenburg. Auch sie helfen im Begegnungshaus mit. Vitalii leitet die kleine Werkstatt. Der gelernte Elektriker repariert Fahrräder und andere Sachspenden, damit sie weiterverwendet werden können. Yulia, die in der Ukraine Labormitarbeiterin in einer Keramikfabrik war, hilft beim Auspacken und Sortieren der Spendenkisten, die noch immer Woche für Woche hier abgegeben werden.
Vitalii und Yulia lebten ebenfalls in einer Kleinstadt bei Kiew. "Als der Krieg ausbrach, bin ich ins Militärbüro gegangen, um mich zu melden", erzählt Vitalii. "Doch sie haben gesagt, du bist krank, du nicht." Vitalii hat Bronchialasthma und wurde ausgemustert. Die Familie beschloss, die Ukraine zu verlassen, denn nicht nur Vitali hat gesundheitliche Probleme: Tochter Margarita leidet an Zerebralparese, einer seltenen, frühkindlichen Gehirnstörung.
Entsprechend schwierig gestaltete sich die Flucht. Weil Margarita einen Rollstuhl brauchte, benötigte die Familie einen Krankentransport. Am Ende half das Lukasstift in Altenburg und organisierte einen Krankenwagen, der Vitalii und seine Tochter aus der Ukraine brachte. "Dafür werden wir dem Lukasstift ewig dankbar sein", sagt Vitalii. Dann erstirbt seine Stimme. Margarita war wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Altenburg gestorben. Ein schwerer epileptischer Anfall endete tragisch.
Trotz dieser traumatischen Erfahrung werden Vitalii, Yulia und ihr Sohn Olexander vorerst in Altenburg bleiben. "Wir möchten zurück in die Ukraine, aber es gibt viele Bomben und es ist für Olexander besser hier. Er geht in den Kindergarten und spricht Deutsch besser als wir", sagt Vitalii.
Den Eltern fällt das Lernen hingegen schwerer. "Ich habe A2 und will arbeiten", sagt Yulia. Wochenlang habe sie Bewerbungen geschrieben, aber nur Absagen bekommen.
B2 ist das Zauberwort
Auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn ist der Spracherwerb für die ukrainischen Geflüchteten in Deutschland das größte Hindernis beim Einstieg ins Arbeitsleben. Die Menschen seien noch nicht lange genug da, um Deutsch auf dem Niveau zu sprechen, das die Unternehmen verlangen würden, sagt Sybille Nordhaus-Bauer. "B2 ist das Zauberwort. B2 sichert den Betrieben, dass die Angestellten jede Anweisung verstehen. Aber von allen die bei uns sind, haben das Zertifikat erst zwei geschafft."
Wie schwer ist es, das Sprachniveau B2 zu erreichen?
Zum Vergleich: Die meisten deutschen Abiturienten beenden ihre Schule mit Englischkenntnissen auf B2. Um an einer deutschen Universität in einer Fremdsprache B2 zu erreichen, benötigen Studierende ohne Vorkenntnisse mindestens sechs Semester – also drei Jahre.
Laut Goethe-Institut bedeutet B2: "Sie verstehen komplexe Texte über konkrete und abstrakte Themen und können auch Fachdiskussionen im eigenen Spezialgebiet verstehen. Sie können sich so fließend und spontan verständigen, dass ein Gespräch mit einem Muttersprachler ohne größere Anstrengungen auf beiden Seiten möglich ist."
Das Problem sei neben den fehlenden Lehrkräften auch die Terminierung der Kurse. "Es vergehen Monate zwischen den Sprachkursen", sagt Nordhaus-Bauer. Wer wie Yulia A2 abgeschlossen habe, muss zum Teil ein halbes Jahr auf den darauf aufbauenden B1-Kurs warten. Zwar versuche der Verein, die Fortschritte der Ukrainer mit eigenen ehrenamtlichen Sprachkursen zu fördern, aber nicht selten werfen die langen Pausen den Lernerfolg zurück.
Matratzen auf dem Boden
Erschwert würden der Spracherwerb und der Einstieg ins Berufsleben auch dadurch, dass die meisten Geflüchteten Frauen mit Kindern sind, sagt Nordhaus-Bauer. "Das sind Frauen, die mit ihren Kindern in ein fremdes Land kommen und hier alleinerziehend sind, weil ihre Männer in der Ukraine kämpfen müssen. Wann und wie sollen die also die Sprache lernen?"
Eine dieser Frauen ist Vasilisa Shiyan. Deutsch spricht sie nicht, aber über die Übersetzungs-App "Google-Translate" erzählt die 27-Jährige, dass sie mit ihren drei Kindern aus Saporischschja in der Ostukraine geflohen ist. Im Südosten von Altenburg wohnt sie nun in einer Vier-Raum-Plattenbauwohnung. Es ist sauber, sonst wirkt die Wohnung aber wie allzu eilig eingezogen. Manche Wände sind blank, das Kinderzimmer hat kein Licht und die Matratzen liegen auf dem Boden. Ein Zimmer dient als Abstellkammer und in der kleinen Küche ist eine viel zu große Küchenzeile verbaut, die von einer Wohnungsauflösung stammt.
Nikita und Nestor, die beiden Jungs, sind acht und fünf Jahre alt. Sie führen durch die Wohnung und zeigen eine Lichterkette, die sie an- und ausschalten, als wäre es das schönste Spielzeug der Welt. Vasilisa wiegt die viereinhalb Monate alte Marfa in den Armen und sagt, sie brauche dringend ein Bett für die Jungs. Am besten ein Doppelstockbett, um Platz zu sparen, denn trotz der vier Räume wirkt alles sehr beengt.
Als wir die Wohnung verlassen, sagt Sybille Nordhaus-Bauer: "Es ist wichtig, dass sie das einmal zeigen. Die Ukrainer, die hier leben, bekommen zwar eine Wohnung, aber Möbel, Hausrat, Kleidung - das sind alles Dinge, die deutsche Familien aussortiert haben."
Eine Chance für die Stadt
Etwa 1.400 Ukrainer leben derzeit in Altenburg. Oberbürgermeister Andre Neumann (CDU) sieht das mit einer gewissen Freude, nicht zuletzt deshalb, weil Altenburg nach der Wende einen deutlichen Bevölkerungsrückgang erlebt und bis heute einen hohen Leerstand hat. Er begreift den Zuzug als Chance für die Stadt und den Osten allgemein. "Wir haben den Platz, wir haben die Zukunftschancen und Möglichkeiten und das muss man auch unserer Bevölkerung sagen."
Neumann wünscht sich, dass der Osten sein wenig einladendes Image gegenüber Ausländern abschütteln kann. "Ich glaube, dass es in zehn oder 20 Jahren dramatische Entwicklungen geben wird, in der Gastronomie, in der Pflege und bei Produktionstätigkeiten, wenn wir es nicht schaffen, weltoffen zu sein."
Wir haben den Platz, wir haben die Zukunftschancen und Möglichkeiten und das muss man auch unserer Bevölkerung sagen.
André Neumann | Oberbürgermeister Altenburg
Daher unterstützt die Stadt die Ukrainehilfe auch nach Kräften: mit dem mietfreien Gebäude, mit einer 520-Euro-Kraft, mit der Zusage, die Betriebskosten des Hauses mittragen zu wollen und auch mit aufrichtiger Anerkennung der ehrenamtlichen Arbeit. "Der Verein ist für die Ukrainer bei uns eine sehr, sehr, sehr wichtige Einrichtung", sagt Neumann. "Hier wird im Ehrenamt eine Aufgabe übernommen, die meiner Meinung nach eigentlich der Staat, das Land, der Kreis und die Stadt erfüllen müssen." Um das weiter zu unterstützen, sei demnächst noch eine zweite 520-Euro-Kraft geplant, die die Stadt dem Verein finanzieren will.
Immer mehr Ukrainer planen ihre Zukunft in Deutschland
Dass Neumanns Hoffnung auf einen längeren Verbleib einiger Ukrainer nicht unbegründet ist, zeigen auch die beiden orthodoxen Taufen in Altenburg im vergangenen Jahr. Insgesamt elf Babys ukrainischer Geflüchteter sind 2023 getauft worden. Für Sybille Nordhaus-Bauer und Matthias Siegl ist das ein klares Zeichen dafür, dass immer mehr Ukrainer in Altenburg Wurzeln schlagen. "Wir werden hier eine ukrainische Community bekommen", sind sie überzeugt.
Das zeige sich auch in der Spendentätigkeit des Vereins. "Am Anfang wurden vor allem Koffer und Beutel von den Ukrainern nachgefragt, denn sie wollten darin ihre Sachen aufbewahren, damit sie jederzeit wieder weg können", erzählt Nordhaus-Bauer. Inzwischen sei das anders. Haushaltsutensilien und Möbel würden viel häufiger nachgefragt als früher. "Ich denke, dass sich wenigstens 50 Prozent damit abgefunden haben, ihre Zukunft in Deutschland zu planen."
Die Ukrainehilfe ist eine große Familie.
Vitalii | floh aus einer Kleinstadt bei Kiew
Das gilt auch für Iryna Voroniuk: "Altenburg ist meine Stadt. Es ist nett, ich mag es hier", sagt sie. Ein Studium ist ihr Ziel. "Ich möchte Sozialarbeiterin werden und Menschen helfen." Sie hofft, dass auch ihr Mann Ivan irgendwann zu ihnen kommen kann. Doch seine Zukunft ist, solange der Krieg andauert, ungewiss.
Auch bei Yulia und Vitalii Rehent scheint eine Zukunft in Deutschland nicht ausgeschlossen zu sein, denn auch sie haben in Altenburg mehr als nur Freunde gefunden. "Die Ukrainehilfe ist eine große Familie. Das sind meine Brüder und Schwestern", sagt Vitalii. "Deswegen kommen wir jeden Montag, Mittwoch und Freitag hierher. Um Zeit mit der Familie zu verbringen."
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MDR (ask/fno)
Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 23. Februar 2024 | 19:00 Uhr
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