SozialforschungGlücklich ohne Kind: Studie erklärt, warum manche Frauen nicht Mutter werden wollen
Etwa jede fünfte Frau bleibt in Deutschland kinderlos, auch weil zunehmend mehr Frauen sich ganz bewusst für ein Leben ohne Kind entscheiden. Die Duale Hochschule in Gera hat in einer Studie mit rund 1.100 gewollt kinderlosen Frauen das Thema untersucht. Die Ergebnisse revidieren nicht nur die bisherigen Forschungen, sondern räumen auch mit vielen Vorurteilen auf.
"Für mich war das eine Selbstverständlichkeit: Man kriegt halt Kinder", erinnert sich Anne Müller. Als sie Anfang 20 war, dachte sie, dass das Kinderkriegen dazugehört. So kannte sie es aus ihrer Familie, so war sie erzogen worden. Doch umso älter sie wurde, desto mehr Zweifel taten sich auf. "Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich gar nicht weiß, ob das für mich die Erfüllung ist." Heute denkt die 31-jährige Wahlthüringerin nicht mehr darüber nach, ob sie Mutter werden sollte. Sie hat sich entschieden, kinderlos zu bleiben.
Auch Marie-Catherine Schaller ist kinderlos und damit sehr glücklich. Doch anders als bei Anne Müller stand das Kinderkriegen für Schaller nie zur Debatte: "Es gab viele Situationen in meinen Leben, wo ich festgestellt habe: Das ist auf gar keinen Fall richtig für dich. Das passt nicht." Die 35-jährige Erfurterin wusste schon früh, dass sie keine eigenen Kinder wollte: "Meine Mama hat mir erzählt, dass ich das schon in meinen Kindheitstagen gesagt habe."
Neue Studie aus Gera revidiert bisherigen Forschungsstand
Warum Frauen wie Anne Müller und Marie-Catherine Schaller keine Mütter werden wollen, hat die sozialwissenschaftliche Fakultät der Dualen Hochschule in Gera in einer neuen Studie untersucht. Der Hochschule ist es dabei gelungen, das Thema anhand von mehr als 1.100 gewollt kinderlosen Frauen zu beleuchten, was die bisherigen Forschungen zum Thema im Umfang um ein Vielfaches übertrifft. Darüber hinaus räumt die Studie nicht nur mit diversen Vorurteilen gegen kinderlose Frauen auf, sondern revidiert auch den bisherigen Forschungsstand.
"Wir sind bisher in der Forschung davon ausgegangen, dass die Rahmenbedingungen schuld daran sind, dass sich Frauen gegen Kinder entscheiden", erklärt Prof. Dr. Claudia Rahnfeld, die die Studie betreute. Stattdessen zeige die Studie, dass die Entscheidung "intrapersonell", also vorwiegend auf die individuellen Überzeugungen der jeweiligen Frau zurückzuführen sei. "Es herrscht ein großes Bewusstsein dafür, dass Kinder viel Raum, Zeit und Energie einnehmen", führt Rahnfeld weiter aus. Die Studie zeige, dass sich Frauen deshalb ganz bewusst gegen Kinder entscheiden würden.
Freizeit statt Kinder
Die Studie befragte die Frauen auch zu den konkreten Ursachen und Beweggründen ihres nicht vorhandenen Kinderwunsches: "Der primäre Grund ist die zusätzliche Freizeit, die individuell gestaltet werden kann", sagt Annkatrin Heuschkel, die die Studie verfasst hat. Mehr Freizeit war für 82,4 Prozent der befragten Frauen ein relevantes Kriterium, gefolgt von der größeren Chance auf Selbstverwirklichung (80 Prozent) und dem Wunsch keine Verantwortung für die Versorgung und Erziehung eines Kindes übernehmen zu müssen (73,4 Prozent).
Die bisherige Annahme, dass die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf (40,2 Prozent) und eine kinderfeindliche Gesellschaft (21,4 Prozent) hauptursächlich seien, bestätigte die Studie nicht. Lediglich die finanziellen Vorteile (63,8 Prozent), die ein kinderloses Leben bedeutet, waren für mehr als die Hälfte der befragten Frauen ein Grund.
Der nie empfundene Kinderwunsch
Eine weitere Überraschung erlebten die Wissenschaftlerinnen, als sie den Zeitpunkt der Entscheidung untersuchten. Denn mit 42 Prozent war die Gruppe der Frauen am größten, die sich bereits vor ihrem 18. Lebensjahr für ein kinderloses Leben entschieden. Sogenannte Früh-Entscheiderinnen wie Marie-Catherine Schaller sind also keine Seltenheit.
Bei den unter 18-Jährigen spielt der nie empfundene Kinderwunsch mit 97 Prozent (im Vergleich zu 72 Prozent bei allen befragten Frauen) eine überragende Bedeutung. "Das sind Frauen, die sich und ihre innersten Bedürfnisse schon sehr früh sehr gut zu kennen scheinen und ihr Leben dementsprechend strukturieren", sagt Annkatrin Heuschkel. Die Studie zeigt, dass Frauen sich häufig schon früh entscheiden, keine Kinder bekommen zu wollen: Jede zweite entscheidet das bis zum 21. Lebensjahr und acht von zehn Frauen haben sich bis zum Alter von 30 Jahren entschieden.
Sozialer Druck und gesellschaftliche Bevormundung
"Früher ist oft für mich festgelegt worden: 'Das kannst du noch gar nicht wissen!', 'Das ist viel zu früh das zu entscheiden!' und 'Was soll das überhaupt, du bist bestimmt die erste die Kinder kriegt!'", erinnert sich Marie-Catherine Schaller. Viele Jahre lang musste sie sich solche Sprüche anhören, weil sie schon früh in ihrem Leben wusste, dass sie keine Mutter werden würde. "Das hat mich sehr gestört und sehr verletzt, dass Leute das so gar nicht ernstgenommen und mich auch ausgelacht haben", erinnert sich Schaller. Oft habe sie sich deswegen verteidigen müssen. Damit ist Schaller nicht allein: Laut der Studie fühlen 68 Prozent aller gewollt kinderlosen Frauen einen Rechtfertigungsdruck gegenüber Außenstehenden.
"Das kannst du noch nicht wissen. Du bist noch im Studium. Du hast ja noch Zeit" - solche Relativierungen durfte sich auch Anne Müller anhören und beschreibt sie heute als unangenehme Art der "Bevormundung". Selbst als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, versuchten Menschen auf sie einzuwirken: Dass würde sie irgendwann bereuen, hieß es oft. Sogar mit ihrer Gynäkologin habe sie das Thema nicht wertneutral besprechen können. Als sie ihre Ärztin kürzlich auf die Möglichkeiten einer Sterilisation ansprach, beschwichtigte diese: "Das müssen sie ja noch nicht entscheiden."
Die Studie, die Schallers und Müllers Erfahrungen auch statistisch belegt, wirft damit auch die Frage auf: Warum müssen sich junge Frauen in einer liberalen und gleichberechtigten Gesellschaft dafür rechtfertigen, keine Kinder zu wollen? Warum können sich Frauen mit 17 Jahren für die Bundeswehr verpflichten oder mit 18 Jahren an politischen Wahlen teilnehmen, aber wenn sie mit 30 - wie Anne Müller - über eine Sterilisation nachdenken, wird das selbst von Ärztinnen zunächst abgewiegelt?
Studie entkräftet Vorurteile
"Die Studie zeigt, wie viel Aufklärungsbedarf es in der Gesellschaft noch gibt", sagt Claudia Rahnfeld. So seien auch Vorurteile gegen kinderlose Frauen weit verbreitet: "Gesellschaftlich verknüpft ist das Stigma, der kinderlosen Frau, dass sie allein ist oder in wilden Partnerschaften lebt und überhaupt keine Beziehungen eingehen will", sagt Rahnfeld. Der Studie zufolge leben aber 80 Prozent der gewollt kinderlosen Frauen in gelingenden Partnerschaften.
Ein weiteres Vorurteil ist, dass die Frauen aufgrund negativer Erfahrungen in der Herkunftsfamilie keinen Nachwuchs bekommen wollen. Auch dazu zeigt die Studie etwas völlig anderes: Mehrheitlich wuchsen die gewollt kinderlosen Frauen in behüteten Familienverhältnissen auf. "Eine Rolle spielt aber die Partnerschaftszufriedenheit der Eltern oder die Qualität der elterlichen Beziehung", erklärt Annkatrin Heuschkel. So würden sich Mädchen, die beispielsweise eine große Abhängigkeit der Mutter vom Vater erlebten, später eher gegen Kinder entscheiden, um nicht selbst in ein solches Abhängigkeitsverhältnis zu geraten. Es scheint, dass traditionelle Familienmodelle eine abschreckende Wirkung auf selbstbestimmte Frauen haben können.
Ein weiteres, weit verbreitetes Klischee besagt, dass gewollt kinderlose Frauen selbstbezogen und egoistisch seien. Auch wenn die Studienergebnisse bei den Ursachen, dies zunächst zu bestätigen scheinen, widersprechen die Wissenschaftlerinnen: "Man muss einen wesentlichen Grund mit einbeziehen: den Kinderwunsch. Mehr als 70 Prozent der Frauen haben nie in ihrem Leben, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart, den Wunsch verspürt, eine Familie zu gründen", führt Heuschkel aus. "Es wäre also überraschender, wenn die betreffende Frau wider ihren eigenen Willen handelt und ein Kind bekommt."
Berufliche Selbstverwirklichung statt Mutterrolle
"Das ist unheimlich wichtig, als Kind auch gewollt zu sein", meint auch Marie-Catherine Schaller. Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Freund in einer festen Beziehung. Auch er wolle keine Kinder, sagt sie. Mit inzwischen 35 Jahren sind die Diskussionen über ihr kinderloses Leben beinah abgeklungen. Nur noch selten würde sie deswegen konfrontiert werden und wenn, dann würde sie heute immer klar ihre Meinung vertreten. "Ich kann heute einen feuchten Dreck darauf geben, was irgendjemand darüber denkt. Ich bin nicht verantwortlich, ob sich jemand anderes mit meinen Entscheidungen wohlfühlt", sagt sie selbstbewusst.
Stattdessen konzentriert sich Schaller auf ihren Beruf. "Kinder machen für Frauen Karriere deutlich schwieriger. Das hat die Pandemie nochmal verdeutlicht", sagt die approbierte Medizinerin und empfindet es als Privileg, gerade ihr zweites Studium absolvieren zu können. An der Universität Malmö in Schweden studiert sie derzeit Public Health.
Auch Anne Müller findet ihre Selbstverwirklichung im Beruf. "Seit meinem Studium bin ich zweimal umgezogen, habe zwei Mal den Job gewechselt und damit auch zweimal einen beruflichen Aufstieg geschafft." Mit Kind wäre das unmöglich gewesen, ist sie überzeugt. Auch diese These lässt sich wissenschaftlich untermauern, meint Claudia Rahnfeld: "Die Geburt eines Kindes bedeutet ausschließlich Nachteile für die Karriere einer Frau." Auf den Karriereverlauf des Mannes habe es hingegen keine Auswirkungen. "Das ist statistisch gut belegt", so Rahnfeld.
"Mütter können nicht gewinnen"
Entscheidender als der berufliche Erfolg war für Anne Müller aber der gesellschaftliche Druck, der Müttern auferlegt wird: "Ich glaube, Mütter können nicht gewinnen: Entweder stille ich mein Kind oder ich gebe ihm die Flasche - so oder so, es gibt immer wen, der was zu meckern hat. Gebe ich mein Kind früh in die Kita, bin ich eine Rabenmutter, gebe ich es zu spät in die Kita, verwehre ich ihm soziale Kontakte." Diese "Unfairness", die die Gesellschaft zwischen Müttern und Vätern walten lasse, habe sie letztlich überzeugt, keine Kinder bekommen zu wollen.
Damit spricht sie die traditionellen Rollenbilder an, die sich in den letzten Jahren zwar immer weiter verschoben haben, Frauen aber oft noch benachteilen: Denn während sich Mütter beinahe für jede Stunde ohne Kind rechtfertigen müssen, werden Väter für jede Stunde, die sie ihrem Kind widmen, fast schon als "Vater des Jahres" gefeiert. Das ist zwar eine Übertreibung, macht aber anschaulich, wo das Problem ist: Der gesellschaftliche Druck lastet bei der Kindererziehung weiter auf den Frauen. "Und dagegen kann sich auch die beste Feministin nicht wehren", sagt Müller.
Anmerkung der Redaktion: Kinderlos oder kinderfrei?
Gelegentlich wird bei diesem Thema gefordert, nicht von "kinderlosen", sondern von "kinderfreien" Frauen zu sprechen, denn der Begriff "kinderlos" bringe zum Ausdruck, dass ein wesentlicher Aspekt im Leben fehle. Durch das Wort "kinderfrei" würde hingegen betont, dass die Frauen sich freiwillig zum Leben ohne Kind entschieden haben. Da die Studie von „Kinderlosigkeit“ spricht und auch alle Interviewpartnerinnen keinen Anstoß an dem Begriff genommen haben, haben wir uns für eine einheitliche Bezeichnung entschieden, um Irritationen bei Lesern und Leserinnen zu vermeiden.
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MDR (ask)
Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit vom Tag | 30. Oktober 2022 | 18:00 Uhr
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