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Die Brutkästen für Frühgeborene sind im ganzen Land dank Lazar Radkows Kampagne "Plastikdeckel für die Zukunft" erneuert. Jetzt sammelt er auch für spezielle Krankenwagen für Neugeborene. Bildrechte: Kapachki za budeshte

Marode KrankenhäuserBulgarien: Bürger erledigen, was dem Staat nicht gelingt

29. Mai 2024, 04:56 Uhr

Moderne Brutkästen für frühgeborene Babys? Die gab es bis vor Kurzem in Bulgarien nicht in jedem staatlichen Krankenhaus, das Neugeborene behandelt. Abhilfe hat keine staatliche Investition oder Reform geschaffen, sondern eine private Initiative. Wie die bekannteste und erfolgreichste Initiative Bulgariens das geschafft hat, erklärt Ostbloggerin Vessela Vladkova aus Sofia.

Kein frühgeborenes Kind sollte in einem bulgarischen Krankenhaus mehr in einem überalterten Brutkasten um sein Leben kämpfen müssen. Dieses simple Ziel stellte sich die Kampagne "Plastikdeckel für die Zukunft" bei ihrem Start vor mittlerweile sieben Jahren, denn den Krankenhäusern selbst fehlen die Mittel für neue Medizintechnik. Die Wohltätigkeitsinitiative kennt einfach jeder in Bulgarien.

Für die Aktion sammeln Menschen Deckel von Plastikflaschen. Die sind klein und leicht zu transportieren. Das erste Ziel der Sammelaktion "Plastikdeckel für die Zukunft" war, alle alten Inkubatoren in Bulgarien durch moderne Geräte zu ersetzen. Schon nach zwei Jahren war dieses Ziel erreicht.

Die Kampagne läuft unter anderen Vorzeichen bis heute. Dazu sind in Bürohäusern, Supermärkten und in den Fußgängerzonen Sammelbehälter aufgestellt. Die gesammelten Deckel werden zum Recyceln verkauft, um aus dem Erlös medizinische Technik für Kinderkliniken zu beschaffen. "Abnehmer der zerkleinerten Kunststoffdeckel sind Plastikhersteller", erläutert Lazar Radkow, der die Aktion ins Leben gerufen hat.

Drei Dutzend Krankenhäuser profitieren

Nach zwei Jahren folgte das nächste Ziel - Schraubverschlüsse sammeln für Krankenwagen - speziell für den Transport von Neugeborenen. Mittlerweile wurden bereits 22 nagelneue Brutkästen, 45 weitere medizinische Geräte und fünf Krankenwagen an 36 Kinderkliniken im ganzen Land geliefert. "Nun sammeln wir für den sechsten Krankenwagen für Neugeborene", berichtet Radkow bei einer großen Sammelaktion in der Hauptstadt Sofia.

Bei einer Sammelaktion in Sofia kommen tonnenweise Plastikdeckel zusammen. Bildrechte: Kapachki za budeshte

In der Millionenstadt kommen in der Regel 60 bis 70 Tonnen Plastikdeckel bei einer Aktion zusammen. Der neue Krankenwagen kostet rund 100.000 Euro, was 800 Millionen Plastikdeckeln entspricht. Radkow packt beim Sortieren, Wiegen und Transportieren der Flaschendeckel selbst mit an.

Wohltätigkeitsaktion schweißt die Menschen zusammen

Lazar Radkow, heute 41 Jahre alt, begann die erste Kampagne schon vor sieben Jahren. Nach seinem Schulabschluss in der zweitgrößten bulgarischen Stadt Plowdiw und einem Studium in Deutschland kam er zurück nach Bulgarien. Er arbeitete in verschiedenen Berufen, half aber immer wieder in Krankenhäusern aus. Aus seiner Zeit als freiwilliger Sanitäter in einer Kleinstadt erinnert er sich, wie Babys in Wolldecken gewickelt und auf dem Arm einer Hebamme mit einem einfachen Auto zur Behandlung ins nächstgrößere Krankenhaus transportiert wurden.

Einer der vom Erlös der gesammelten Plastikdeckel angeschafften Krankenwagen speziell für Neugeborene. Bildrechte: Kapachki za budeshte

Radkow fand, das sollte es in einem EU-Land im 21. Jahrhundert nicht mehr geben. Heute sind fünf vollausgestattete Krankenwagen für Neugeborene im Einsatz. "Wir stehen kurz vor dem Kauf des Sechsten", sagt Lazar Radkow, und peilt das nächste Ziel an: "Wir sammeln auch für neue medizinische Ausrüstung an Frauen- und Kinderkliniken. Derzeit prüfen wir, was in den ausgewählten fünfzehn bis zwanzig Kliniken fehlt. Manche Geräte sind schon bestellt", berichtet Radkow.

Er findet, alle sollten mit anpacken, wenn sie in einem besseren Bulgarien leben wollen. Das habe Radkow in seiner Zeit in Deutschland gelernt. "Die eigentliche Macht unserer Aktionen sind die Menschen. Wenn jeder etwas Kleines leistet, dann wird am Ende etwas ganz Großes daraus", beschreibt Lazar Radkow seine Lebensphilosophie. Bisher hat er unzählige freiwillige Helfer begeistern können.

Chronischer Geldmangel und schlechtes Management im Gesundheitswesen

Bei der Sammelaktion in Sofia haben die Musiklehrerin Maria Tomowa und ihr Mann diesmal drei Müllsäcke mit Plastikdeckeln abgegeben. Sie schüttelt mit dem Kopf, wenn sie gefragt wird, warum man Sammelaktionen braucht, um Krankenhäuser zu unterstützen. Die einfache Antwort ist: wegen des chronischen Geldmangels.

Die Kampagne "Plastikdeckel für die Zukunft" aktiviert seit sieben Jahren Menschen in ganz Bulgarien. Bildrechte: Kapachki za budeshte

Der gerade aus dem Amt geschiedene Gesundheitsminister Christo Hinkow hat aber noch eine andere Erklärung: "Weil die meisten staatlichen Krankenhäuser schlecht wirtschaften und nicht effektiv sind." Gemeint sind Kliniken, die in den Jahren nach der Wende hohe Schulden angehäuft haben. Der Staat hat sie aufgekauft, um sie vor der Schließung zu bewahren.

Hinkow zufolge, der auch Professor für Psychiatrie ist, kämpft Bulgarien bereits über 20 Jahre lang mit einem strukturellen Problem. 2001 habe man die folgenschwere Entscheidung getroffen, die Privatisierung der knapp 200 Krankenhäuser in Bulgarien auszusetzen. "Die Folge ist, dass wir heute neben den staatlichen Krankenhäusern fast genauso viele neue private Kliniken haben", sagt der Ex-Gesundheitsminister. Die gibt es jedoch nicht überall und nicht in allen wird die Behandlung von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen.

Der Psychiatrieprofessor erklärt das Problem mit einem Beispiel aus der westbulgarischen Kleinstadt Wratza: "Dort steht der Bau eines neuen privaten Krankenhauses unmittelbar bevor. Jetzt schon ist klar, dass dort viel höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen mit moderner Technik angeboten werden. Deshalb besteht die Gefahr, dass ganze Klinikbelegschaften aus dem staatlichen Krankenhaus in das neue abwandern werden." Hinkow hält deshalb die Privatisierung staatlicher Krankenhäuser für einen sinnvollen Ansatz.

Die Wohltätigkeitskampagne "Plastikdeckel für die Zukunft" wird das staatliche Gesundheitswesen aber wohl noch lange brauchen. Zwar ist sie die erfolgreichste, die dem schlecht finanzierten Gesundheitswesen in Bulgarien unter die Arme greift, aber keinesfalls die einzige. Immer wieder sehen sich schwerkranke Patienten gezwungen, teure Behandlungen in Anspruch zu nehmen - sogar oft im Ausland - und auch das dafür notwendige Geld zu sammeln.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Heute im Osten | 25. Mai 2024 | 07:25 Uhr