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EU-AußengrenzeBelarus-Polen: Das Drama an der Grenze geht weiter

15. Januar 2022, 05:00 Uhr

Der Białowieża-Nationalpark im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus ist einer der letzten Urwälder Europas und seit Monaten Schauplatz einer humanitären Katastrophe. Seit Anfang Juli kommen verstärkt Migranten und Flüchtlinge aus Fernost, aber auch aus dem Irak, Afghanistan und Afrika per Flugzeug nach Belarus. Von dort versuchen sie, über die grüne Grenze in die EU zu gelangen. Die polnischen Behörden versuchen die Schicksale aus dem öffentlichen Blickfeld heraus zu halten – anscheinend mit Erfolg.

von Martin Hoffmann, Osteuroparedaktion

Noch immer riskieren Männer, Frauen und Kinder ihr Leben, um bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt von Belarus in die EU zu gelangen. Das öffentliche Interesse ist jedoch abgeflaut und die mediale Aufmerksamkeitskarawane hierzulande längst weitergezogen. Das liegt einerseits an den sinkenden Zahlen von Flüchtlingen, die über die Belarus-Route Deutschland erreichen. So hatte die deutsche Bundespolizei für den Oktober noch 5.294 "unerlaubte Einreisen mit Belarus-Bezug" festgestellt, während sie im Dezember nur noch 521 solcher illegalen Grenzübertritte erfasste. Aber es gibt einen weiteren Einflussfaktor: Die Blockade-Strategie der polnischen Regierung gegen humanitäre Helfer und mediale Berichterstatter scheint zunehmend aufzugehen.

Zensur durch die Sperrzone

Sie basiert vordergründig auf der seit September eingerichteten und hermetisch abgeriegelten Sperrzone entlang der mehr als 400 Kilometer langen Grenze. Sie reicht drei Kilometer ins Land hinein und wird hermetisch überwacht. Bei Eintritt in die Sperrzone drohen Journalisten und Aktivisten bis zu 30 Tage Haft. Derart können Journalisten kaum über Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen durch polnische Sicherheitsbehörden berichten.

Zusätzlich schüchtern Militärangehörige Journalisten und Aktivisten immer wieder ein: Erst Mitte Januar wurden einige Reporter bei der Begleitung eines Hilfseinsatzes der Flüchtlingsorganisation Ocalenie von Uniformierten mit entsicherten Waffen bedroht, ihre Handys und medizinische Notfallgeräte konfisziert. Erst durch die herbeigerufene Polizei erhielten sie ihre Telefone zurück. Bereits im November hatte die Organisation "Reporter ohne Grenzen" über gewaltsame Festsetzungen und Nötigungen von mehreren Journalisten-Teams durch polnische Soldaten berichtet.

Lähmende Bürokratie

Die Schikane- und Blockadepolitik der polnischen Regierung richtet sich neben Journalisten auch gegen renommierte internationale Hilfsorganisationen. Anfang Januar teilte Médecins Sans Frontières (MSF) mit, dass sie ihre Notfallhelfer aus dem Grenzgebiet abgezogen haben. Obwohl es "immer noch Menschen gibt", die sich in den Wäldern versteckten und Unterstützung bräuchten, "konnten wir sie nicht erreichen", sagte eine MSF-Sprecherin. Drei Monate hatte sich die Organisation um eine Zugangsgenehmigung für das Grenzgebiet bemüht – ohne Erfolg.

Schwer bedroht: Freiwillige Helfer

Allerdings sind es nicht nur Staatsvertreter, die freiwillige Helfer in den zurückliegenden Monaten an ihrer Arbeit gehindert haben. Auch manche Anwohner der Grenzregion begegneten ihnen mit offener Feindseligkeit. Das bekam etwa die Initiative "Medycy na Granicy" zu spüren. Die Gruppe aus 44 Medizinern hatte verletzte und entkräftete Flüchtlinge schnell und unbürokratisch medizinisch erstversorgt. Nachdem ihre Privatautos Mitte November bei einem nächtlichen Angriff auf ihr Basiscamp demoliert worden waren, stellte die Initiative kurzfristig ihre Hilfseinsätze ein. Ein Sicherheitsberater hatte ihnen dringlich dazu geraten. Beim nächsten Angriff würde sich die Gewalt nicht mehr gegen Autos, sondern die Ärztinnen und Krankenpfleger selbst richten. Einige Tage später wurden drei Hooligans aus der Region als mutmaßliche Täter festgenommen.

Wie nötig die Notfallhilfe war, zeigt die Bilanz von "Medycy na Granicy": Mehr als 100 Notfall-Einsätze fuhren die Mediziner innerhalb von nur sechs Wochen. Dabei halfen sie rund 300 Menschen, die nach Tagen und Wochen in den frostkalten Wäldern unterkühlt, entkräftet oder verletzt waren. Für mindestens 21 Menschen allerdings kam jede Hilfe zu spät. Sie starben im polnisch-belarussischen Grenzgebiet beim Versuch in die EU zu gelangen, so die Zählung von Médecins Sans Frontières für das vergangene Jahr.

Während die Toten an der EU-Außengrenze zuletzt kaum noch öffentliche Erwähnung fanden, stand der Begriff "Pushback" gerade kurzfristig im medialen Fokus: "Pushback" wurde Mitte der Woche zum Unwort des Jahres 2021 gekürt. Es bezeichnet das gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtlingen aus dem EU-Gebiet, zum Beispiel zurück über die belarussische Grenze. Damit wird es von der Jury in eine Reihe mit Begriffen gestellt, die sich verschleiernd und euphemistisch gegen Prinzipien der Menschenwürde richten. Das Wort "Pushback" steht auch für eine grenzüberschreitende Verschleierungstaktik, die in der EU – wenn überhaupt – öffentlich kaum wahrnehmbar thematisiert wird. Polens Behörden forcieren sie jeden Tag in den Wäldern des Grenzgebiets.

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Quelle: MDR

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Heute im Osten | 15. Januar 2022 | 18:00 Uhr