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In diesem Frühjahr konnten viele rumänischen Bauern ihr Getreide noch nicht wie sonst um diese Zeit im Jahr verkaufen. Bildrechte: MDR/Annett Müller-Heinze

Solidaritätskorridor durch OsteuropaBauern in Rumänien klagen über billiges ukrainisches Getreide

17. April 2023, 18:41 Uhr

Die EU hat vor knapp einem Jahr ihre Grenzen für ukrainische Getreideexporte geöffnet, damit sie auf Solidaritätskorridoren durch die Union transportiert werden und Drittländer erreichen können. Was in Brüssel als Erfolg gefeiert wird, ist für die Bauern in Rumänien zum Problem geworden, da ihnen das preisgünstige Getreide aus der Ukraine im eigenen Land das Geschäft verhagelt.

von Annett Müller-Heinze, Osteuroparedaktion

Landwirt Gheorghe Porubszki schaut sorgenvoll in seinen Getreidespeicher im westrumänischen Nadlac: Fast die Hälfte seiner Weizenernte hat er noch nicht verkauft. Eine völlig ungewohnte Situation für den 55-jährigen Bauern – normalerweise ist sein Weizen im April schon längst zu Brot in Rumänien und Nudeln in Italien verarbeitet. In den vergangenen Jahren konnte Porubszki feste Kontingente mit rumänischen Getreidehändlern vereinbaren, sie zahlten ihm schon bei der Aussaat einen Vorschuss für die Ernte: "Die Getreidehändler haben mir hinterhertelefoniert. Sie wollten häufig mehr Ware von mir, als vereinbart war." Jetzt hört Porubzki von den Händlern nur noch, dass das Getreide aus der Ukraine viel preisgünstiger sei. Dem rumänischen Landwirt bleibt als Ausweg nur, seinen Weizen deutlich unter den Produktionskosten zu verkaufen oder ihn im Speicher zu halten – zumindest bis zur nächsten Ernte, die in weniger als drei Monaten vom Feld muss.

Rumänien jetzt Abnehmer Nummer eins für ukrainisches Getreide

Nicht nur Bauer Gheorghe Porubszki, sondern auch viele andere Landwirte befürchten derzeit, aus dem Markt gedrängt zu werden, weil die rumänischen Getreideverarbeiter verstärkt auf die Ware aus der Ukraine setzen, angefangen von Mühlen bis hin zu Mastanlagen, die den um bis zu einem Viertel preisgünstigeren ukrainischen Mais an ihre Tiere verfüttern. Anfang März teilte das ukrainische Parlament auf seiner Facebook-Seite mit, dass sich die Rangfolge der Abnehmerländer geändert habe: Sei früher Indonesien die Nummer eins gewesen, habe nun das benachbarte Rumänien die Spitzenposition eingenommen. Eine ungewöhnliche Nachricht für das Agrarland Rumänien, das sich sonst selbst mit Weizen, Mais, Raps und Gerste versorgt. 2021 importierte das Land gerade einmal 1.000 Tonnen an ukrainischem Getreide – die Menge passt in einen Zug mit 15 Güterwagen. Doch seit Kriegsbeginn ist ein Anstieg um das 3.000-fache zu verzeichnen. Rumänische Landwirte wie Gheorghe Porubszki sprechen von einer Getreideschwemme, die das Land überflute. Die Ware kommt über die sogenannten Solidaritätskorridore.

Ausweg über Solidaritätskorridore

Die EU-Kommission hatte die Transportwege im vorigen Mai eingerichtet, um der Ukraine beim Getreideexport vor allem in Drittländer außerhalb der EU zu helfen. Damit der Transit der Güter so unbürokratisch und so schnell wie möglich erfolgt, erhebt die EU derzeit keine Einfuhrzölle, auch werden bei einer Durchfahrt durch die EU keine Pflanzenschutzbescheinigungen an der Grenze verlangt. Was einst ausschließlich über das Schwarze Meer verschifft wurde, wird nun auf dem Landweg per Lkw und Bahn transportiert. Angaben der EU-Kommission zufolge werden monatlich durchschnittlich rund drei Millionen Tonnen Getreide auf diese Weise aus der Ukraine ausgefahren. Rein rechnerisch wird damit auf den Solidaritätskorridoren genauso viel Getreide transportiert wie über das derzeitige Schwarzmeer-Abkommen, durch das die Ukraine zwar Containerschiffe nutzen kann, jedoch Russland die Konditionen diktiert. Wiederholt drohte der Kreml, das Abkommen aufzukündigen.

2022 haben wir in weiten Teilen der Union über Trockenheit und Ernteverluste geklagt. Die EU will mit dem Import ukrainischen Getreides auch Engpässe auf dem eigenen Markt verhindern.

Agrarexperte Cezar Gheorghe

Getreide ist nicht nur auf der Durchreise

In Brüsseler Kreisen gelten die eigenen Solidaritätskorridore als wichtiger Erfolg: Die globalen Weizenpreise sind seither gesunken, auch will die EU-Kommission deutlich machen, dass die russische Führung die Ukraine nicht erpressen kann. Dass entlang der Korridore jedoch ein gewichtiger Teil des ukrainischen Getreides bei den osteuropäischen EU-Nachbarn verbleibt und dort für Marktverzerrungen sorgt, habe man in Brüssel sicher vorausgesehen, "aber vermutlich das Ausmaß unterschätzt", sagt der Bukarester Agrarexperte Cezar Gheorghe. So verbleibt ein Teil der ukrainischen Exporte in Rumänien, weil die Liefermengen den Großhändlern, die vorher Containerschiffe angeheuert haben, zu klein sind, um sie weiter in Drittländer zu bringen. Auch hat Brüssel im vorigen Jahr die Solidaritätskorridore angelegt, um eigene Handelsinteressen zu bedienen. "2022 haben wir in weiten Teilen der Union über Trockenheit und Ernteverluste geklagt. Die EU will mit dem Import ukrainischen Getreides auch Engpässe auf dem eigenen Markt verhindern", sagt Agrarexperte Gheorghe. Damit jedoch seine Landsleute nicht Opfer der Solidaritätskorridore werden, müsse man schnellstens die Regeln ändern und sie besser kontrollieren, sagt Gheorghe. Hunderttausende Landwirte sehen das ähnlich – nicht nur in Rumänien, auch in Polen, Ungarn, der Slowakei oder im Schwarzmeer-Anrainerland Bulgarien versuchen sie seit Monaten, sich Gehör in dieser Frage zu verschaffen.

Ware kommt nicht schnell genug in die Häfen der EU-Länder

Nach monatelangem Zögern werden jetzt auch die nationalen Regierungen aktiv. In einem Schreiben fordern die Regierungschefs aus Warschau, Bukarest, Sofia, Bratislava und Budapest die EU-Kommission auf, die betroffenen Bauern finanziell zu unterstützen. Zudem gibt es zahlreiche Vorschläge, wie man die Solidaritätskorridore überwachen könnte: mittels verstärkter Frachtkontrollen oder einer Kautionszahlung, damit der Transit eingehalten wird. Sollte all das nicht helfen, heißt es im Schreiben, müsse Brüssel wieder Importquoten einführen und Einfuhrzölle an der EU-Außengrenze erheben. Höhere Hürden für den Import hält die Agrarökonomin Bettina Rudloff von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik jedoch für das falsche Signal. Vielmehr sollten die Solidaritätskorridore ausgebaut und schneller gemacht werden. "Dass der Transport in den osteuropäischen Mitgliedstaaten nicht nur als Transit erfolgt, liegt auch daran, dass die Güter nicht schnell genug in die Häfen der EU-Länder gelangen. Hier muss stärker investiert werden", sagt Rudloff. Eine Entspannung für die Transitrouten werde es aber nur durch ein beschleunigtes Getreideabkommen über das Schwarze Meer geben, an dem weiter gearbeitet werden müsse, meint Rudloff.

Die EU-Solidaritätskorridore wurden eigentlich eingerichtet, um ukrainisches Getreide schnell durch die EU auf den Weltmarkt zu bringen. Bildrechte: EU-Kommission

Lkw und Güterwagen sind seit Monaten knapp

Eine Milliarde Euro an Fördermitteln und Krediten stellte die EU im vorigen Jahr für den Ausbau der Korridore bereit. Trotzdem wird der Ausbau der Infrastruktur Jahre dauern. Derzeit ächzt der Verkehr in den osteuropäischen Ländern unter den zusätzlichen Getreidemengen. Die anhaltende Nachfrage nach Lkw und Güterwagen hat die Kosten für den Transport nach oben getrieben. Rund die Hälfte aller ukrainischer Agrar-Exporte, die über die Solidaritätskorridore laufen, wickelt allein Rumänien ab.

Schickt Personal für die Grenzübergänge, das uns hilft, die Warenströme zu trennen. Bis heute werden diese Engpässe nicht angegangen. Wir lassen uns hier völlig treiben.

Agrarexperte Cezar Gheorge

Deswegen müsse die Bukarester Regierung dringend mehr Unterstützung aus Brüssel einfordern, meint Agrarexperte Cezar Gheorge: "Wir sollten auf EU-Ebene klarmachen, dass sie uns 5.000 oder 10.000 Güterwaggons zur Verfügung stellen sollen, so viele sie eben haben. Schickt Personal für die Grenzübergänge, das uns hilft, die Warenströme zu trennen. Bis heute werden diese Engpässe nicht angegangen. Wir lassen uns hier völlig treiben."

Brüssel billigt erste Subventionen für betroffene Bauern

Über stärkere Frachtkontrollen, die mehrere Bauernverbände in Osteuropa als Lösung gegen die Getreidekonkurrenz fordern, kann nur Brüssel entscheiden. In EU-Kommissionskreisen heißt es jedoch, das sei das falsche Signal in Zeiten des Krieges. Deshalb setzt man jetzt erst einmal auf Finanzhilfen für die betroffenen Landwirte. Ende März wurden zehn Millionen Euro aus einem Krisenfonds für Rumänien gebilligt, die Bukarester Regierung will weitere zehn Millionen Euro beisteuern. Bauernverbände im Land halten die Summe für völlig unzureichend, sie sprechen von einem Milliardenschaden für die einheimische Landwirtschaft.

Die Landwirte hier haben das Gefühl, dass weder die Bukarester Regierung noch die EU-Kommission eine Lösung haben und sie geopfert werden, nur damit der Solidaritätskorridor offen bleibt.

Landwirt Milan Kelo

Landwirte Gheorghe Porubszki (links) und Milan Kelo (rechts) vor der Silo-Anlage der Agrar-Genossenschaft "Fermierul Nadlacan" im westrumänischen Nadlac Bildrechte: MDR/Annett Müller-Heinze

Bauern befürchten Pleitewelle

Landwirt Milan Kelo aus dem westrumänischen Nadlac stehen die Tränen in den Augen, wenn er auf die halbvollen Silos blickt, in denen noch über 4.000 Tonnen Getreide vom letzten Jahr lagern. Der 35-Jährige verwaltet eine Agrar-Genossenschaft mit fast 30 Bauern, sie bewirtschaften rund 3.500 Hektar in Nadlac. Für seine neue Aussaat hat sich der Landwirt Geld bei der Bank geliehen, andere stünden dagegen schon kurz vor der Pleite. Die Stimmung sei gereizt, erzählt Kelo, das Solidaritätsgefühl mit der Ukraine habe erste Risse bekommen: "Die Landwirte hier haben das Gefühl, dass weder die Bukarester Regierung noch die EU-Kommission eine Lösung haben und sie geopfert werden, nur damit der Solidaritätskorridor offen bleibt. Eine Pleitewelle von Landwirten im Land wäre willkommenes Futter für die extremistischen Parteien, das ist enorm gefährlich für die EU." Kelo hofft, dass sich Brüssel außer den Finanzhilfen noch etwas anderes einfallen lässt, um den betroffen Bauern zu helfen. Etliche, sagt er, hätten die Hoffnung aber schon aufgegeben.

Am Karfreitag gingen Landwirte in ganz Rumänien auf die Straße, um auf ihre Situtation aufmerksm zu machen. Im westrumänischen Nadlac beteiligten sich laut Organisatoren rund 140 Bauern mit über 80 Traktoren am Protest. Die Organisatoren stellten auch dieses Bild zur Veröffentlichung zur Verfügung. Bildrechte: Milan Kelo

MDR (usc)

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 02. April 2023 | 19:00 Uhr