WestukraineUkraine: Polnische Touristen kommen trotz Krieg
Urlaub im Kriegsland Ukraine? Für viele Gäste aus Polen kein abwegiger Gedanke. Sie halten der westukrainischen Metropole Lemberg, die sie in Friedenszeiten zahlreich besucht haben, auch im Krieg die Treue, machen Radtouren durch die Westukraine, Wandern in den Karpaten oder fahren nach Truskawez zur Kur. So zeigen sie ihre Solidarität, was viele Ukrainer begrüßen. Doch wie normal kann der Alltag im Krieg sein und wie sicher ist es in der Westukraine?
Es ist noch dunkel, als ein kleiner Reisebus mit etwa 20 Touristen an Bord an einem frühen Maimorgen im ostpolnischen Zamość losfährt. Etwa anderthalb Stunden braucht er bis zur ukrainischen Grenze. Die Warteschlange ist ungewöhnlich kurz, denn sonst stauen sich vor den Schranken Autos, Linienbusse und Lastwagen oft kilometerweit. Nach einer Stunde hat der Bus den Zoll passiert und rollt langsam an dem blau-gelben Schild "Україна – Ukraine" vorbei. Für die meisten Teilnehmer wird das ihr erster Besuch in einem Land sein, das sich im Krieg befindet.
Mit Reisen die Ukraine unterstützen
Geschmackloser Kriegstourismus? "Auf keinen Fall", erklärt Andrzej Kudlicki, dessen Reisebüro "Quand" wohl als einziges in Polen seit Mai wieder Reisen in das Land der östlichen Nachbarn anbietet. "Wir haben in den vergangenen Monaten sehr viele Anfragen für die Ukraine bekommen. Da ich seit Kriegsausbruch etwa dreißig Mal mit Hilfstransporten, aber auch privat drüben unterwegs war, weiß ich, dass sich solche Reisen auch heute eigentlich ohne Risko organisieren lassen."
Im Internet erntete Kudlicki dafür mitunter Kritik. Er selbst versteht seine Aktivitäten aber nicht als Kriegstourismus: "Das ist mein persönlicher Beitrag zum ukrainischen Sieg in diesem Krieg. Dass Menschen dort ausgerechnet jetzt ausländischen Touristen begegnen, hat für sie eine enorme psychologische Bedeutung. Sie reagieren enthusiastisch und empfinden deren Besuch als Zeichen der Solidarität. Natürlich freuen sich auch Hotel- und Restaurantbesitzer über unsere Besuche. Seit längerer Zeit signalisierten sie schon, dass sie wieder bereit sind, unsere Gruppen aufzunehmen", so Andrzej Kudlicki.
Dass Menschen in der Ukraine ausgerechnet jetzt ausländischen Touristen begegnen, hat für sie eine enorme psychologische Bedeutung. Sie reagieren enthusiastisch und empfinden deren Besuch als Zeichen der Solidarität.
Andrzej Kudlicki, Polnischer Reiseunternehmer
Dass die Polen gerne in den Westen der Ukraine reisen, verwundert an sich nicht. Denn die Gegend ist ein Teil der Kresy, der einstigen Ostgebiete Polens, die Stalin 1945 der Sowjetunion einverleibt hat. Und so sind die Kresy ein wichtiges Element der kollektiven polnischen Erinnerung. Das ist nicht zuletzt deshalb so, weil die Westukraine in der polnischen Geschichte eine wichtige Rolle spielt und große Werke der polnischen Literatur dort spielen – Werke, die alle in Polen in der Schule gelesen haben.
"Luftalarm? – Macht es wie die Lemberger"
Die westlichen Regionen der Ukraine liegen 800 bis 1.000 Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt. Die meisten Hotels und Restaurants sind geöffnet, die Läden gut sortiert. In der Großstadt Lemberg (ukrainisch Lwiw, bis 1939 unter dem Namen Lwów die drittgrößte Stadt Polens) warten Museen, Kinos und das Opernhaus auf Gäste. An Touristen fehlt es dort nicht, doch die meisten von ihnen kommen aus der Ukraine selbst. Ausländische Besucher sind eher eine Seltenheit.
Selbstverständlich muss man sich im Land an einige Regeln halten, denn Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Beachten muss man etwa, dass zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens Ausgangssperre herrscht. Daran, dass sich das Land im Krieg befindet, erinnert aber sonst insgesamt nicht viel: Nur die relativ wenigen Militärcheckpoints außerhalb der Städte und die Sirenen, die ab und zu ertönen. "Während der Besichtigung von Lemberg fragte eine Teilnehmerin unseren einheimischen Stadtführer, wie man bei einem Fliegeralarm reagieren solle", erzählt Andrzej Kudlicki. "Der Stadtführer antwortete: Macht es wie die Lemberger – macht gar nichts. Damit wollte er sagen, dass die Einwohner der Stadt und der Umgebung mittlerweile wissen, dass ihnen im Moment meist keine Gefahr droht und sie ihre alltäglichen Aktivitäten gar nicht unterbrechen. Fliegeralarm bedeutet einfach, dass irgendwo ein Flugzeug gestartet ist, das das ukrainische Staatsgebiet vermutlich angreifen wird", betont Kudlicki. Das Land sei ja aber riesengroß und der Alltag im Westen der Ukraine sehr weit von den Kriegsgebieten entfernt, aus denen wir Bilder in den Nachrichten sehen.
Touristen fühlen sich in Westukraine sicher
Marcin Wcisło machte sich Anfang Mai zu einem Besuch nach Lemberg auf. Auch seine Frau und seine drei Kinder waren mit auf den Tagesausflug gekommen. Für alle war das ihr erster Besuch in der Ukraine. "Ich wollte die vielen positiven Berichte, die ich über Lemberg gehört hatte, mit der Realität abgleichen. Außerdem wollte ich mit eigenen Augen sehen, wie der Alltag in einer Region aussieht, die fern der Kampfhandlungen liegt. Meine Eindrücke waren sehr gut. In Lemberg fühlt man sich sicher", bestätigt Marcin Wcisło. Gerne würde er bald wieder in die Westukraine fahren, dann aber für mehr als nur einen Tag.
Auch Joanna Adamek-Łysakowska hat sich nicht wegen des Nervenkitzels entschlossen, an einer zweitägigen Fahrradtour durch die Ukraine teilzunehmen. "Mein Mann und ich mögen zwar Abenteuer, suchen aber keine extremen Erlebnisse. Wir wissen, dass in den Regionen, die direkt jenseits der polnischen Grenze liegen, Ruhe herrscht", sagt sie. Seit Kriegsausbruch hat Adamek-Łysakowska die Ukraine schon mehrmals besucht. Die einzige unangenehme Erfahrung, die sie hatte, sei der erste Luftalarm gewesen. "Wir waren zunächst wie gelähmt, doch schnell haben wir gesehen, dass sich die Einheimischen davon nicht beeindrucken lassen und das hat uns beruhigt", erinnert sich Adamek-Łysakowska.
Radeln für die Ukraine
Keineswegs ein Ukraine-Anfänger ist Tadeusz Grabowski. In den vergangenen Jahren fuhr er sowohl beruflich als auch als Tourist ins Nachbarland. "Direkt nach Kriegsausbruch habe ich bei Hilfstransporten mitgemacht. Im Sommer 2022 beschlossen einige Bekannte und ich, den Gipfel des Pip Iwan nahe der rumänischen Grenze zu besteigen. Die Bergwanderung war nur eines unserer Ziele. Wir wollten außerdem sehen, ob es in den weiter östlich gelegenen Gegenden Kriegszerstörungen gibt. Wir haben aber keine gesehen", so Grabowski.
Von ihm kam auch die Idee für die Fahrradtour unter dem Motto "Radeln für die Ukraine", die Kudlickis Reiseagentur organisiert. Außer den eigentlichen Kosten haben die Teilnehmer zusätzlich einen Złoty, also etwa 20 Cent, pro gefahrenen Kilometer als Spende gezahlt. Da kam ein hübsches Sümmchen zusammen, das sie dann an die ukrainischen Freunde überreicht haben.
Ukraine-Reisen so günstig wie vor dem Krieg
Wer die Ukraine besuchen möchte, muss nicht tief in die Tasche greifen. Zwar sind die Preise nominell höher geworden, da aber gleichzeitig die ukrainische Hrywnja gegenüber anderen Währungen an Wert verlor, kostet ein Aufenthalt tatsächlich so viel wie vor dem Krieg. Und weil sich auch genügend polnische Kunden für ihr Nachbarland interessieren, hat Kudlicki das Ukraine-Angebot seines Reisebüros ausgebaut: Neben Lemberg, der Hügelkette Roztocze und den Ostkarpaten wird sein Unternehmen demnächst wohl auch die an der Grenze zu Ungarn und Rumänien gelegene Region Transkarpatien ins Programm aufnehmen.
Außerdem will der Reiseunternehmer auch Kuraufenthalte ins 80 km von der polnischen Grenze entfernte Truskawez anbieten. Dieses seit österreich-ungarischen Zeiten bekannte Heilbad ist praktisch wieder in seinen normalen Modus zurückgekehrt, versichert der Chef des Reisebüros. Nur eines müssten Ukraine-Besucher wissen: Selbst wenn Reisen in die Westukraine derzeit recht sicher sind, kann man sich gegen Schäden, die eventuell infolge von Kriegshandlungen entstehen, nicht versichern.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 20. Mai 2023 | 18:00 Uhr