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Bildrechte: picture alliance/dpa/KEYSTONE | Gian Ehrenzeller

Gerichtshof für MenschenrechteSchweiz wegen zu wenig Klimaschutz verurteilt

09. April 2024, 16:55 Uhr

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz wegen mangelhaften Klimaschutzes verurteilt. Das Land muss strengere Maßnahmen ergreifen. Klimaaktivisten hoffen auf eine Signalwirkung für andere Länder.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat erstmals ein Land wegen unzureichenden Klimaschutzes verurteilt. Das Straßburger Gericht gab am Dienstag einer Gruppe Schweizer Seniorinnen recht, die ihrer Regierung vorwerfen, durch mangelnden Klimaschutz ihre Menschenrechte zu verletzten. Konkret argumentierten die Frauen, dass sie aufgrund ihres Alters besonders durch den Klimawandel gefährdet sind, beispielsweise wegen extremer Hitzewellen. Das Urteil ist rechtlich bindend für die Schweiz. Das Land muss laut Urteil seine Klimapolitik überprüfen.

Die Klägerinnen, die von Greenpeace unterstützt wurden, erwarten eine Signalwirkung für andere Länder. Die Anwältin der Gruppe, Cordelia Bähr, sagte: "Das ist ein immenser Sieg für uns und ein Präzedenzfall für sämtliche Staaten des Europarates". Der EGMR wacht über die Einhaltung der Menschenrechtskonvention in den Mitgliedsstaaten des Europarats. Zu den Mitgliedern zählen alle EU-Staaten und andere große Länder wie die Türkei oder Großbritannien.

Die Schweizer "Klimaseniorinnen" freuen sich über das Urteil. Bildrechte: picture alliance/dpa/KEYSTONE | Jean-Christophe Bott

Das Gericht wies allerdings am Dienstag zwei weitere Klagen zum Thema aus Portugal und Frankreich ab. Ein französischer Bürgermeister hatte gegen sein Heimatland geklagt; portugiesische Jugendliche richteten ihre Beschwerde gegen 32 europäische Staaten. Das Gericht urteilte, dass dem französischen Politiker die sogenannte Opfereigenschaft fehle, er also nicht besonders betroffen sei. Die Jugendlichen hätten sich wiederum zuerst in Portugal durch alle Instanzen klagen müssen.

Jubel bei Klimaaktivsten und Umweltschützern

Die Schweizer Seniorinnen wurden nach der Urteilsverkündung mit Beifall und Jubel angereister Klimaaktivisten empfangen, unter ihnen die prominente Schwedin Greta Thunberg. Die Initiatorin der Bewegung "Fridays for future" sagte, es sei erst der Anfang der "Klima-Gerichtsprozesse". "Überall auf der Welt verklagen immer mehr Menschen ihre Regierungen und machen sie für ihr Handeln verantwortlich." Im vergangenen Dezember verzeichneten US-Forscher weltweit tatsächlich weltweit mehr als 2.500 Fälle, in denen Kläger sich vor Gericht gegen die Folgen des Klimawandels wehrten.

Umweltorganisationen und Klimaforscher zeigten sich erfreut über das Urteil. Der WWF nannte das Urteil einen "Weckruf für die Regierungen, die bisher nicht ausreichend gehandelt haben". Der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Ottmar Edenhofer, stufte die Entscheidung als "bahnbrechend" ein. "Dieses Urteil sollte auch andere Staaten an ihre internationalen Verpflichtungen erinnern: Wer sich Klimaziele setzt, ist dafür verantwortlich, diese einzuhalten", sagte Edenhofer.

Schweiz will analysieren und prüfen

Die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd äußerte sich in Wien bei einem Besuch bei ihrem österreichischen Amtskollegen zu dem Urteil. "Nachhaltigkeit ist für die Schweiz sehr wichtig, die Biodiversität ist für die Schweiz sehr wichtig, das Netto-Null-Ziel ist für die Schweiz sehr wichtig", sagte Amherd. Daran arbeite die Regierung und werde dies auch weiterhin tun. Das Schweizer Justizministerium teilte mit: "Zusammen mit den betroffenen Behörden werden wir nun das umfangreiche Urteil analysieren und prüfen, welche Maßnahmen die Schweiz für die Zukunft ergreifen muss".

Das Urteil weckt Erinnerungen an die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts 2021 zur Klage von mehreren Jugendlichen. Sie hatten argumentiert, ihr Recht auf eine angemessene Zukunft werde durch unzureichende Anstrengungen Deutschlands beim Klimaschutz gefährdet. Das Gericht gab ihnen im Wesentlichen recht. Daraufhin änderte und verschärfte Deutschland sein Klimaschutzgesetz.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte, dass das Verfahren in Straßburg zeige, dass die Klimakrise in allen europäischen Ländern zu den größten Gefahren zähle. Dem stelle sich die Bundesregierung mit ihren Klimaschutzmaßnahmen, sagte die Grünen-Politikerin. "Wir haben in den vergangenen zwei Jahren den Ausbau der Erneuerbaren Energien massiv vorangetrieben", sagte sie in Berlin.

1,5-Grad-Ziel weit weg

Nach Einschätzung unabhängiger Wissenschaftler erfüllen jedoch weder die Schweiz noch Deutschland oder irgendein anderes Land der Erde derzeit die Anforderungen für die Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens. In dem Abkommen hat sich die internationale Staatengemeinschaft verpflichtet, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen beziehungsweise mindestens auf deutlich unter 2 Grad. Nach Berechnung des Projekts "Climate Action Tracker" steuert die Welt derzeit bis zum Jahr 2100 auf eine Erwärmung von 2,2 bis 3,4 Grad zu.

Wissenschaftler weltweit sind sich einig, dass die Erderhitzung nach wie vor deutlich begrenzt werden könnte. Dafür ist nach einhelliger Ansicht der Forscher vor allem nötig, Treibhausgasemissionen zu reduzieren, etwa durch den Ausstieg aus fossilen Energieträgern wie Öl, Kohle und Gas. Der Ko-Direktor des PIK, Johan Rockström, sagte am Dienstag: "Die Regierungen müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um Emissionen zu mindern und schwer vermeidbare CO2-Emissionen durch Negativemissionen auszugleichen."

Reuters/AFP/dpa(ala)

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 09. April 2024 | 14:08 Uhr

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