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Alternative JugendkulturAltenburg 1976: Wie die DDR gegen Hippies vorging

09. Juli 2021, 05:00 Uhr

1976 feiert das thüringische Altenburg 1000 Jahre seines Bestehens. Es soll ein sozialistisches Vorzeigefest werden, drei Tage lang, Wochen vorher in allen DDR-Medien angekündigt. Doch dann gerät das Event aus dem Ruder. Die Staatsmacht fühlt sich von etwa 2.500 jungen Langhaarigen aus der "Blueser"-Szene provoziert und greift hart durch - nur weil die jungen Leute eine Lebenshaltung haben, die nicht so recht ins Ideal der "sozialistischen Persönlichkeit" passt. Später spricht man von der Rock-Randale von Altenburg - obwohl niemand Fensterscheiben einschlägt oder Autos anzündet.

von Elisabeth Enders

Für den 9. bis 11. Juli 1976 hat Thomas Heimbach Urlaub vom Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee eingereicht. Er will mit Freunden nach Altenburg. "Wir waren so 10-15 Mann, alles Musikfans. Wo es Konzerte gab, da sind wir hin!" Weil der 21-Jährige gerade bei der Armee ist, hat er kurze Haare, sonst trägt er sie immer lang. Er fühlt sich als Teil der Szene der mitreisenden Musikfans, bekannt als "Blueser" oder "Kunden", die sich Wochenende für Wochenende auf den Weg machen, um Konzerte irgendwo in den Sälen von Landgaststätten oder Jugend- und Kulturclubs zu besuchen.

Was war die Blueser- und Kunden-Szene in der DDR?

In den 1970er-Jahren reisen Jugendliche und junge Erwachsene am Wochenende zu Konzerten angesagter Bands und Festen in der ganzen Republik. Sie nennen sich Blueser, Kunden, Kutten Tramper, oder Sandalen. In der Woche gehen sie arbeiten, an den Wochenenden leben sie ihre tabufreien Auffassungen von Sexualität und Genuss - als Gegenentwurf zu Spießigkeit und Enge der DDR. Ihre unangepasste Haltung stellen sie auch äußerlich zur Schau. Sie tragen grüne Parkas, braune Wildlederschuhe (Tramper), Römerlatschen und lange Haare.

Konfrontation mit der Polizei ist nicht das Ziel, aber beim Karneval in Wasungen, dem Schleizer Dreieckrennen oder dem Baumblotenfest in Werder kommt es regelmäßig zu Zusammenstößen mit der Polizei, die versucht, die Kunden zu vertreiben. Für die Staatsmacht sind diese "Gammler" Feinde der DDR, aber auch viele Durchschnittsbürger fühlen sich durch die langen Haare, die Trinkgelage und die abgerissene Kleidung abgestoßen.

Sozialistisches Vorzeigefest in Altenburg

Altenburg hat Mitte der 1970er-Jahre reichlich 50.000 Einwohner. Das Stadtfest bietet drei Tage lang ein dichtes Programm an vielen Orten der Stadt, um die sozialistischen Errungenschaften zu feiern: Die Hochseilartisten Gebrüder Weisheit treten zwei Mal am Tag auf, es gibt zahlreiche weitere Show- und Sportvorführungen, Musik von Blaskapelle bis Rock. Mit geschätzten 250.000 Besuchern ist die Stadt am Südrand des damaligen Bezirks Leipzig rappelvoll.

Thomas Heimbach hat das Festprogramm aufgehoben. Die Begrüßung des Bürgermeisters gleicht einem Loblied auf den Sozialismus: "Für uns verbindet sich die 1000-jährige Geschichte Altenburgs mit dem Gedanken an die revolutionären Kämpfe in dieser Zeit, mit dem Stolz auf die sozialistischen Errungenschaften von heute und mit dem Blick auf die zu lösenden Aufgaben von morgen. Deshalb auch unsere Losung: 'Wir gehören zu den Siegern der Geschichte -
Herz und Initiative für unser sozialistisches Altenburg.'"

Karat-Konzert zum Festauftakt

Viele, die im Kulturbetrieb der DDR Rang und Namen haben, sind in diesen Tagen in Altenburg zu sehen. Schon am Freitagabend treten auf dem Markt "Kreis" und "Karat" auf. Beide Bands sind noch ganz jung, Karat hat sich erst 1975 gegründet und Gitarrist Bernd Römer ist erst seit zwei Monaten dabei. "Das war mein zweites Live-Konzert mit Karat in Altenburg und ich hatte den Kopf voll!". Bernd Römer erinnert sich, dass er nach getaner Arbeit das Konzert von Veronika Fischer anschaute, in deren Band damals auch Hansi Biebl spielte.

Dieser Festival-Charakter, obwohl es verschiedene Bühnen waren, der war etwas Besonderes, das gab's in der Größe danach auch nicht noch mal. Altenburg wurde zur Metropole der DDR-Rockmusik in diesen Tagen.

Bernd Römer, Karat

Blueser-Szene stört das Bild

Das sehen auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen so. Sie bleiben die drei Tage gleich da, obwohl die meisten keine Bleibe für die Nacht haben. Auch Thomas Heimbach und seine Freunde machen das so: "Wir schliefen bei Bekannten, auch mal im Hausflur. Ich lag auch mal zwei Nächte unter der Berg- und Talbahn." Womit er Probleme hat, ist das Verhalten einiger der Tramper, Kutten oder Sandalen, wie sie sich selbst nannten, welches öffentliches Ärgernis erregt: Grünanlagen als Toilette und öffentlicher Sex sind einfach zu viel Zumutung.

Für die Staatsmacht und eine ganze Reihe älterer Fest-Besucher ist schon die bloße Anwesenheit der vielen Langhaarigen in ihrer Kleidung aus Parkas und Römerlatschen eine Provokation. Sie nennen sie "Gammler" und drücken damit aus, was sie von ihrem Lebensstil halten. "Allein durch die verwahrloste Kleidung (...), abstoßendes Aussehen und Verhalten des genannten Personenkreises wurde die festliche Atmosphäre erheblich beeinträchtigt.", schätzt das Zentralkomitee der SED im Nachhinein ein. Rufe wie "Wir machen, was wir wollen!", "Wir wollen frei sein!" und "Wir werden beweisen, dass die Staatsmacht machtlos ist!" heizen die Stimmung auf.

Hippies führen Staatsmacht vor...

Thomas Heimbach fotografiert in diesen Tagen und hält so manche Szene im Bild fest. Wie die Hundestaffel der Volkspolizei, die im Park steht und den Tieren schon die Maulkörbe abgenommen hat. Oder den Jugendlichen, der auf einen Masten der Hochseilartisten Geschwister Weisheit klettert. Er ist ganz oben, die Leiter der Feuerwehr zu kurz. "Es war ein Schauspiel, die Polizei hat ihn nicht runter gekriegt. Am Ende kam der wieder runter und unbehelligt davon", erinnert sich Heimbach.

Der Pfarrer im Nachbarort Rositz will die Situation entschärfen und richtet Übernachtungsmöglichkeiten in der Bartholomäuskirche in Altenburg ein. Er berichtet: "Keiner hat randaliert. Sie waren alle sehr höflich, ich habe gestaunt, wie bescheiden sie sind." In der darauffolgenden Nacht umstellt die Polizei die Kirche und lässt keinen mehr durch. Die Lage eskaliert, die Polizei wird beschimpft und versucht vergeblich, "Ordnung" zu schaffen.

... und die Staatsmacht schlägt zurück

103 "Gammler" aus der ganzen Republik werden festgenommen. Einem von ihnen bringen massive Beleidigungen der Polizei neun Monate Haft ein, die meisten anderen kommen mit Bußgeldern und Verwarnungen davon. Aus einem Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) geht hervor, dass es keine Anhaltspunkte gebe, dass Konfrontationen, also Randale, das Ziel gewesen sei.

Thomas Heimbach schüttelt noch heute den Kopf über die Polizei: "Ich hab' gedacht: Was soll denn das, das ist doch bloß Musik!" Die Kutten hätten einfach andere Ansichten vom Leben gehabt, seien aber normale Jugendliche gewesen: "Ich weiß nicht, wie die politische Führung sich das damals gedacht hat, die waren weit weg von der Jugend."

Protest mit langen Haaren und nackten Oberkörpern

Die "Kutten" lehnen das starre Korsett aus Ideologie und den Anforderungen der älteren Generation, wie sie zu sein haben, ab. Viele "Normalbürger" haben dafür aber kein Verständnis. Diese "Affengruppen" seien eine Schande, ihr Anblick für Frauen eine starke Zumutung, sie sollten alle ins Arbeitslager, lauten die Beschwerden, die nach dem Fest eingehen. Die meisten Tramper sind damals zwischen 16 und 19 Jahren alt und "junge Facharbeiter". Karat-Gittarist Bernd Römer, damals mit 24 Jahren selbst kaum älter als die "Kutten", fasst es so zusammen: "Rockmusik, lange Haare, das Outfit, das war Protest!" In einem der Verhöre gibt ein in Altenburg verhafteter 19-Jähriger zu Protokoll: "Ich habe immer den Eindruck, als wenn einer hinter mir stehen würde."

Zentralkomitee lässt die Zügel straffer ziehen

Thomas Heimbach entwickelt seine Fotos nach dem Fest zu Hause selbst. Er traut sich nicht, die Filme wegzuschicken. Das Zentralkomitee der SED als politische Führung des Landes zieht nach Altenburg die Daumenschrauben an. Alle für Kultur verantwortlichen Behörden bekommen "weitereichende Maßnahmen" auferlegt, um künftig ähnliche Demonstrationen von "Wir machen, was wir wollen!" zu verhindern. Bands werden verboten, die Besucher bei Konzerten stärker beobachtet. Thomas Rauhut, Experte für die Szene der DDR-Musik, schätzt ein: "Altenburg löste einen politischen Aktionismus aus, der zu den größten und langwierigsten der Geschichte des DDR-Rock zählt."

Bernd Römer von Karat allerdings bemerkte davon nichts. "Wir hatten weiter unsere Konzerte und es kamen weiter die Leute in jeden entlegenen Saal auf dem Land gereist. Wir kannten unsere Fans, weil sie immer wieder kamen." Der scheinbare Widerspruch spiegelt das Katz- und Mausspiel wieder: Auf der einen Seite der Politapparat, der die rebellische Energie der Rockszene versucht einzugrenzen, auf der anderen Seite die Freiheit, die sich private Veranstalter nahmen. "Staatliche Auflagen wurden, solange es irgendwie ging, ignoriert bzw. durch Korruption ausgehebelt", schreibt Michael Rauhut in seinem Artikel für die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen.

Ältere Altenburger erinnern sich immer noch an die wilden Tage im Juli 1976. Der Jazzclub Altenburg e.V. kümmert sich darum, die Geschichten und Fotografien zu sammeln und zu bewahren. 2016, zum 40. Jahrestag des Festes, organisierte der Club eine Foto-Ausstellung und eine emotionale Podiumsdiskussion mit Akteuren von damals.