Lili-Jacob-AlbumAuschwitz-Fotografien: Neue Erkenntnisse aus alten Bildern
Dem Schicksal der Menschen in Auschwitz kommen wir über Fotos näher – aufgenommen im Sommer 1944 und bekannt als Sammlung im sogenannten "Lili-Jacob-Album". Doch sie zeigen mehr, als bisher erkannt.
Inhalt des Artikels:
Menschen warten auf den Tod. Kinder, Greise, junge Frauen und Männer. Sie drücken ihre Habseligkeiten an sich, achten auf ihre Töchter und Söhne. Sie werden bewacht und danach sortiert. Die einen sind wenig später tot, die anderen müssen Zwangsarbeit leisten. Die knapp 200 Fotos des "Lili-Jacob-Albums" werden seit vielen Jahren in unzähligen Ausstellungen, Broschüren, Infoveranstaltungen gezeigt. Sie sind Sinnbilder des Massenmordes in Auschwitz. Das Album ist nach seiner Finderin benannt: Lili Jacob.
Lili Jacob: Von Auschwitz nach Mittelbau-Dora
Sie wird 1926 in einer jüdischen Familie in einer kleinen Stadt in den Ostkarpaten geboren. Am 24. Mai 1944 deportiert die SS die Familie im Rahmen der "Ungarn-Transporte nach Auschwitz-Birkenau. Ihre Eltern, die fünf Brüder, ihre Großeltern mütterlicherseits sowie vier Tanten und Onkel, sieben Cousinen und Cousins sterben in Auschwitz. Lili Jacob wird ins Quarantänelager eingewiesen. Sie muss Latrinen reinigen und den Abfall mit Lastwagen aufs Land bringen. Im Dezember 1944, im Zuge der ersten Räumungen in Auschwitz, wird Lili Jacob aus dem Vernichtungslager herausgebracht und landet über viele andere Lager schließlich im KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen.
Sie ist schwer an Typhus erkrankt, als das Lager im April 1945 befreit wird. Am 11. April schleppt sie sich durch das Schutzhaftlager. Den Fund des Albums beschreibt sie im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess:
Ich war sehr schwach und brach zusammen. Meine Mitgefangenen brachten mich in eine Kaserne, die vordem von Nazis besetzt war. Und sie legten mich auf ein Bett. Und ich lag dort eine Weile. Nach einer Weile fühlte ich mich sehr kalt, fröstelnd. Und ich versuchte, etwas zu finden, um mich zu bedecken. Ich öffnete die Tür eines Nachtkästchens. Dort fand ich eine Pyjamajacke, welche ich auch heute noch besitze. Und darunter war dieses Album. Als ich dieses Album öffnete, erkannte ich das Bild des Rabbiners aus meiner Heimatstadt, der meine Eltern verehelichte.
Lili Jacob | Auszug aus dem Buch: "Die fotografische Inszenierung des Verbrechens"
Sie nimmt das Album an sich, auch weil sie darin ermordete Familienangehörige sieht. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie nicht, wer die Fotos gemacht hat und warum.
2019 finden sich überraschende Erkenntnisse
2019 haben drei Historiker ihre Erkenntnisse zu den Details der Fotos zusammengefasst: In ihrem Buch "Die fotografische Inszenierung des Verbrechens" (2019) zeigen sie zum einen die genaue Herkunft und vor allem, wie die Fotos zusammenpassen: Ob sie Abläufe abbilden, zu welcher Zeit sie gemacht wurden, wen sie abbilden. Den Historikern Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller ist es damit gelungen, die Rätsel und Geheimnisse des Albums zu erhellen.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Fotos nicht als Propaganda nach außen dienen sollten. Das Album ist höchstwahrscheinlich auf Befehl von Rudolf Höß angelegt worden, der im Mai 1944 zur Durchführung des "Ungarn-Programms" nach Auschwitz zurückberufen wurde.
"Zeigen, wie Höß den Mord an Juden organisiert hat"
Der Autor Christoph Kreutzmüller erzählt über seine Erkenntnisse im Interview mit MDR-Zeitreise: "Die Aufnahmen sind gemacht worden im Frühsommer 1944 von zwei SS-Fotografen. Das sind die beiden SS-Fotografen, die den Erkennungsdienst in Auschwitz leiteten. Die bekommen dann von Rudolf Höß den Auftrag einen Bericht zu machen, einen fotografischen Bericht, der zeigen soll, wie toll Rudolf Höß den Mord an den ungarischen Juden organisiert hat", so der Historiker. "Die wollen zeigen, wie Höß das alles im Griff hat. Den Fluß 'Menschen kommen an, tausende Menschen kommen an und werden organisiert. Was übrig bleibt sind: Schuhe.'"
Der Fotograf Bernhard Walter und Rudolf Höß kennen sich schon sehr lange. Es liegt somit nahe, dass Höß ihn mit der Erstellung des Albums beauftragt hat. Walter, 1911 geboren, kommt im Januar 1941 nach Auschwitz. Die Produktion des Albums erfolgt im Sommer 1944 bis mindestens Anfang August. Wegen des strikten Fotoverbots in den Tötungszentren ist davon auszugehen, dass Höß für die Aufnahmen eine Sondergenehmigung erwirkt hat. Denn die ersten Fotos werden direkt bei oder kurz nach Inbetriebnahme der neuen Todesrampe am 16. Mai 1944 gemacht.
"... und plötzlich sieht man Abläufe."
Von Mai bis Juli 1944 werden zwischen 434.000 und 437.000 Menschen in 147 Transporten von Ungarn nach Auschwitz verschleppt. Die Transporte kommen in einer bis dahin nicht dagewesenen Dichte in Auschwitz-Birkenau an. Durchschnittlich sind es vier Transporte mit je mehr als 3.000 Menschen.
Die Fotografien im Lili-Jacob-Album bilden einen kleinen Teil davon ab: kurz vor der Ankunft, während der Selektion, Gänge zu den Gaskammern. Bilder die als Sinnbild stehen, wie Selektionen stattfanden. Doch die Erkenntnis der Historiker bringt neues zu Tage: "Dann haben wir aus den 200 Fotos einzelne Serien isoliert und plötzlich sieht man Abläufe. Man sieht an einem Tag, wie die SS nur die Frauen selektiert. Sehr, sehr, sehr, sehr schnell. Die Männer warten. Und an einem anderen Tag werden Männer und Frauen gleichzeitig selektiert", erzählt Kreutzmüller. "Man kann die Abläufe sehen, man kann sehen, wie die SS gehandelt hat."
Die Rampe, die heute für den Ort der Selektionen gehalten wird, ist zu dem Zeitpunkt der Aufnahmen "nagelneu". Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Selektionen an der alten Rampe, zwischen Auschwitz I und Auschwitz II stattgefunden. Mit ihrer Arbeit ist den Historikern daran gelegen, Vermutungen, Ableitungen und Interpretationen der Fotos ein Stück weit gerade zu rücken.
"Normalerweise fanden alle Selektionen in der Nacht statt. Fast alle Menschen, die in Auschwitz bis zum Sommer 1944 ermordet wurden, kamen nachts an und wurden nachts in die Gaskammern getrieben. Nur im Sommer 1944, weil dort so viele Menschen ermordet wurden, kamen auch Transporte tagsüber an", berichtet der Autor weiter. "Und der Kameramann, Bernhard Walter, fotografiert natürlich tagsüber, weil das Licht besser ist. Deswegen ist unsere Wahrnehmung, dass die Selektionen tagsüber stattgefunden haben."
Die Autoren haben nicht nur die tatsächlichen Vorgänge untersucht, sondern auch entdeckt, dass die Fotos nicht willkürlich gemacht wurden. Der Fotograf wirkt vielmehr aus künstlerischen Ambitionen heraus auf die Szene ein. Er unterbricht beispielsweise den Selektionsvorgang, um auf Waggons zu steigen und vor dort aus zu fotografieren.
Fotografen: Brutal, gemein, gefährlich nah
Für manche Bilder – Frauen und Kinder auf dem Weg in die Gaskammer – sorgt er dafür, dass die Gruppe stehen bleibt, sich umdreht und zu ihm schaut. Wir sehen Menschen, die vor einem unfassbar großen Unglück stehen, Menschen die vielleicht noch leben könnten, aber kurz nach den Aufnahmen grausam ermordet werden. Dabei sind die Fotografen der damaligen Zeit oft gemein und brutal, treten nah an die Opfer heran, demütigen sie und spielen mit ihrem überlegenen Wissen.
Bernhard Walter nimmt zum Kriegsende das Album mit, als er Hals über Kopf aus Auschwitz fliehen muss. Im KZ Mittelbau-Dora bewahrt er es auf, unter seinem Pyjama. Als er von dort flieht, findet Lili Jacob die Aufnahmen. Walter gerät in US-Kriegsgefangenschaft, er wird 1948 in Krakau wegen Aufenthalts im KZ Auschwitz zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach seiner Entlassung 1950 kehrt er nach Fürth zurück. In späteren Prozessen streitet er ab, die Fotos aus dem Lili-Jacob-Album gemacht zu haben. Doch einer der SS-Leute, die auf den Fotos zu sehen sind, wirft Walter vor, häufig an der Rampe gewesen zu sein. Walter gesteht schließlich. 1979 stirbt er mit 68 Jahren.
Dieser Artikel wurde 2020 erstmals veröffentlicht.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR ZEITREISE | 29. Januar 2023 | 22:20 Uhr