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Die Hochschulgruppe "Medical Students for Choice" an der Uni Halle fordert, das Thema Abtreibung stärker im Lehrplan zu verankern. Bildrechte: Carolyn Steindorf

Medical Students for ChoiceInterview: "Die Abschaffung von Paragraf 219a war das Mindeste"

24. Dezember 2022, 05:00 Uhr

Carolyn Steindorf hat ihre Ausbildung selbst in die Hand genommen. Die Medizinstudentin hat zusammen mit ihren Kommilitoninnen an der Universität Halle eine "Medical Students for Choice"-Gruppe gegründet. Das Ziel: sich selbst zu Schwangerschaftsabbrüchen informieren, und das Thema in den Lehrplan holen. Denn dort wird der Eingriff bisher oft nur aus ethischer Perspektive beleuchtet. Ein Gespräch über die Abschaffung von Paragraf 219a und darüber, was noch zu tun bleibt.

Die Medical Students for Choice gibt es ja bundesweit. Was genau ist denn das Problem mit der Lehre in Halle? Was hat euch dazu bewogen, euch zu organisieren?

Das größte Problem ist, dass es immer die Entscheidung einzelner ist, ob das Thema Abtreibung gelehrt wird oder nicht. Leider haben sich die Verantwortlichen der Gynäkologie und Geburtshilfe am Universitätsklinikum dagegen entschieden. Solange nicht politisch durchgesetzt wird, dass es Seminare und Vorlesungen zum Thema geben muss, können Lehrende das relativ frei entscheiden. Und wenn sie selbst eine konservative Haltung haben oder das Thema nicht wichtig für Studierende finden, lehren sie es einfach nicht.

Ärzte und Ärztinnen, die in Halle ihren Abschluss machen, wissen deswegen zum Thema Schwangerschaftsabbruch nur das, was sie sich selbst angeeignet haben. Sonst kann man sich ja eigenverantwortlich über Pflichtpraktika Krankenhäuser suchen, wo Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, um den Eingriff zu lernen. Aber auch das ist in Halle nicht möglich, da die Krankenhäuser St. Elisabeth und St. Barbara als kirchlicher Träger keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen, auch nicht aus medizinischen Gründen.

Ihr habt euer Anliegen, das Thema Schwangerschaftsabbruch im Studium viel stärker zu verankern, Anfang des Jahres der Grünen-Fraktion im sachsen-anhaltischen Landtag vorgetragen. Wie ist es danach weitergegangen?

Wir haben einige Dinge eigenverantwortlich organisiert. Zum Beispiel einen Papaya-Workshop: Das ist eine Praxisübung, bei der man den operativen Aspekt eines Schwangerschaftsabbruchs üben kann. Mit Papayas eben. Die sind nämlich ein richtig gutes Uterus-Modell. Da geht's aber weniger darum, dass man das dann wirklich beherrscht, das Ziel ist eher, dass man mit dem Thema mal in Berührung kommt und den Eingriff gedanklich durchspielt. Die Nachfrage war auf jeden Fall da, die 25 Plätze, die wir hatten, waren voll.

Außerdem haben wir einige Vorträge organisiert, zum Beispiel von Ulrike Lembke, einer Juristin und Verfassungsrichterin. Christiane Tennhardt von den Doctors for Choice hat auch schon zweimal bei uns gesprochen. Da sind viele gekommen und das Feedback war total gut. Im Moment versuchen wir an unserer Uni wenigstens ein Wahlfach aufzubauen. Aber das ist alles sehr langwierig, weil man dafür ja auch Ärzte und Ärztinnen braucht, die bereit sind uns zu unterrichten.

Warum sind solche Vorträge über Abtreibung und Workshops wichtig? Warum reichen euch die aktuellen Lehrplaninhalte nicht?

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland ungefähr genauso häufig wie Blinddarmentfernungen. Und natürlich lernt man im Studium nicht die genauen Details der Operation, aber trotzdem ist es so, dass wir zum Thema Blinddarmentfernungen wahnsinnig viel machen: Aufklärungsgespräche, Anamnesebögen, in unserem Hörsaal wurden auch ganz oft schon solche OPs übertragen. Und zum Schwangerschaftsabbruch kommt nichts, dabei ist das so ein leichter Eingriff, den man eigentlich mindestens mal so am Rand thematisieren müsste.

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland ungefähr genauso häufig wie Blinddarmentfernungen.

Carolyn Steindorf | Medical Students for Choice

Dazu kommt, im Medizinstudium gibt es viele Themen, bei denen man anfänglich Berührungsängste hat. Und Schwangerschaftsabbrüche gehören da auch dazu, weil das Thema in unserer Gesellschaft einfach so stigmatisiert ist. Viele Frauen reden da nicht offen drüber und diese Berührungsängste setzen sich dann im Studium fort.

Bei vielen anderen sensiblen Themen, wie Organspende oder schlimmen Krebserkrankungen werden uns diese Berührungsängste im Studium genommen, einfach weil wir immer wieder hart damit konfrontiert werden. Beim Thema Schwangerschaftsabbruch passiert das aber nicht. Es gibt in unserem ganzen Studium quasi ein Seminar bei dem das Wort "Schwangerschaftsabbruch" überhaupt fällt.

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Wie groß ist denn generell das Interesse am Thema Abtreibung unter den Medizin-Studierenden in Halle?

Das ist unterschiedlich. Also es kommt schon auch hin und wieder die Frage danach, ob das denn für alle relevant ist und ob das nicht eher in die gynäkologische Facharztausbildung gehört – gerade von männlichen Kommilitonen. Aber das ist ein Trugschluss: Schwangerschaftsabbrüche kann jede Fachrichtung machen. Und so, wie sich die Versorgungssituation entwickelt, könnte das auch nötig werden.

Gerade in der Allgemeinmedizin ist man oft persönliche Ansprechperson und da ist es gut, sich mit dem Thema auszukennen und den Eingriff auch selber anzubieten. Inzwischen geht das ja auch einfach mit einem Medikament zu Hause. 

Was bedeutet es für euch, dass Paragraf 219a abgeschafft wurde?

Es ist eigentlich das Mindeste und auch schon lange überfällig. Deswegen kann ich dem auch nicht so richtig applaudieren oder mich großartig freuen. Es hat ja auch gar nicht so riesengroße Auswirkungen auf unsere Tätigkeit als Ärztinnen. Klar, später in der eigenen Praxis, können wir dann über Schwangerschaftsabbrüche informieren und das ist gut, aber letztlich ist es der Hauptparagraph, 218, der unsere Arbeit beeinträchtigt.

Also ist die Abschaffung von Paragraf 218 noch immer das End-Ziel?

Auf jeden Fall. Ich denke, die größte Hürde ist die Bürokatie, die mit Schwangerschaftsabbrüchen ohne medizinischen Grund einhergeht. Gerade bei der Dokumentation muss man höllisch aufpassen und das liegt an Paragraf 218. Rein technisch beherrschen die meisten Frauenärztinnen und Frauenärzte den Schwangerschaftsabbruch, weil das Verfahren ja zum Beispiel auch bei unvollständigen Fehlgeburten zur Anwendung kommt.

Was viele auch nicht wissen: In Deutschland gibt es seit ungefähr zwei Jahren ein Vertriebsverbot für das Medikament, mit dem man einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch machen kann. Das hat dann so absurde Konsequenzen, wie Frauenärztinnen, die teilweise einfach organisiert in die Niederlande fahren müssen, um dort das Medikament zu kaufen.

Da kann man schon verstehen, dass viele Ärztinnen und Ärzte keine Schwangerschaftsabbrüche anbieten, einfach weil es so viel Eigenengagement erfordert. Und dann kommt noch die Stigmatisierung dazu, die sich eben auch auf die Ärztinnen und Ärzte erstreckt.

Seid ihr über eure Uni hinaus mit anderen Studis vernetzt?

Also, wir sind erstmal an der ganzen Universität vernetzt. Schwangerschaftsabbrüche spielen ja nicht nur im Medizinstudium eine Rolle, sondern zum Beispiel auch für Juristinnen und Juristen.

Deutschlandweit sind wir mit den anderen "Medical Students for Choice" vernetzt. Die Gruppe kommt ja aus den USA und seit sich in Berlin ein neuer Ableger gegründet hat, gibt es an fast jeder Universität in Deutschland die ein Medizinstudium anbietet, eine Medical Choice Gruppe oder mindestens kritische Mediziner:innen, die das Thema auch meistens auf dem Schirm haben. Alle erzählen übrigens das gleiche: Die Lehre zu dem Thema ist unterirdisch. 

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 31. Dezember 2022 | 05:00 Uhr