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InterviewPolitikpsychologe: Für viele ist die soziale Ungleichheit inzwischen bedrohlich

06. September 2022, 17:43 Uhr

Linke und Rechte versuchten die Menschen mit unterschiedlichen Geschichten zu überzeugen, sagt Politikpsychologe Thomas Kliche. Auch die Politik mache sich die Diskussion um die Proteste zunutze, denn es werde vor allem darüber gesprochen, ob man überhaupt protestieren dürfe und nicht darüber, ob Bund und Länder eine gute Politik machen. In Kliches Augen ist die Regierung der Ampel-Koalition gescheitert. Die wachsende soziale Ungleichheit sei inzwischen für immer mehr Menschen eine Bedrohung.

Obwohl gerade ein neues Entlastungspaket beschlossen wurde, gab es am Montag in mehreren Städten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Proteste. Sie richteten sich vor allem gegen die aktuelle Energiepolitik und die steigenden Preise. Unter anderem in Magdeburg und Leipzig waren mehrere Tausend Menschen auf der Straße. Zu den Demonstrationen hatten linke und rechte Parteien aufgerufen. MDR-SACHSEN-ANHALT hat mit dem Politikpsychologen Thomas Kliche darüber gesprochen, wie die Politik mit den Protesten umgeht und warum die Lage gerade so angespannt ist.

MDR-SACHSEN-ANHALT: Ursprünglich hatte ja die Linke zu den Protesten aufgerufen. Dass die Rechte folgt, war abzusehen. Was passiert da gerade? Kämpft man um die Hoheit des Volkszorns?

Thomas Kliche: Man kämpft um zwei Geschichten. Die Rechte versucht wie üblich zu sagen: "Wir sind das Volk!", also Volk zu simulieren. Das ist da die Hauptgeschichte, zu sagen: "Wir müssen auf die deutschen Interessen achten." Bei der Linken ist das sehr viel komplizierter. Die wollen das Thema lebendig halten und das Thema ist eine Repräsentationskrise in Deutschland, die seit 20 Jahren schleichend zugenommen hat, nämlich insofern: Wer weniger Bildung und weniger Einkommen hat, der geht nicht in Parteien und der geht zunehmend weniger zu Wahlen. Wir haben also eine dramatische Unterrepräsentation der 'ärmsten Schweine' in diesem Land. Und die linke Geschichte ist: Wir müssen uns jetzt neu zusammenfinden und uns klar machen: "Wir sind viele und wir können was unternehmen“. Also, zwei ganz unterschiedliche Geschichten.

Nun haben wir auch erstmals die Situation, dass Proteste angekündigt, ja herbeigeredet wurden. Was ändert das? Kann die Politik sich nicht besser darauf einstellen?

Die Politik macht das ganz gerissen. Die Politik ist ja nicht die Politik aller Parteien, sondern der Parteien, die im Moment die Ampelkoalition bilden, plus ein wenig CDU, die ja in vielem auch ganz ähnliche Ansichten hat, insbesondere wie die FDP. Die haben ja deswegen damals auch über die Koalition verhandelt, die möglich wäre. Nein, für die Parteien, die regieren, ist dieser Diskurs ausgesprochen nützlich.

Es ist ja ein Diskriminierungs- und Totschlag-Diskurs: "Wenn ihr auf die Straße geht, womöglich euch noch Montagsdemo nennt, dann macht ihr was ganz ganz Böses." Das heißt, die Organisation der Leute, die bisher mit wenig Stimme neben dem politischen System standen, die wird auf dem Weg erschwert. Die Menschen werden entmutigt und zwar auch die, die mit ganz guten Gründen sagen: "Also diese Politik verletzt uns und ist für uns so belastend und auch ungerecht, das wir das nicht wollen." Und dabei darf man eins nicht vergessen:

Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler findet die aktuelle Politik ausgesprochen fragwürdig.

Das heißt, hier wird nicht so sehr darüber geredet: "Ist es eine gute Politik?" – davon kann man die Menschen schon kaum noch überzeugen – sondern es wird davon geredet: "Dürft ihr lautstark dagegen protestieren oder müsst ihr die Klappe halten?" Und deshalb ist diese Art von Totschlag und Ausgrenzung für die regierenden Parteien in allen Ländern, auch dem Bund, ausgesprochen nützlich.

Laut einer nicht repräsentativen MDRfragt-Umfrage sind Drei Viertel mit dem Entlastungspaket 3 unzufrieden. 90 Prozent denken nicht, dass sie finanziell entlastet werden. Hat die Politik mittlerweile eigentlich schon ihr ganzes Pulver verschossen?

Die Politik tut jetzt das, was eigentlich nach dem Wahlergebnis zu erwarten war: Sie versagt. Und das ist gar nicht so sehr an Einzelpunkten, sondern das ist die Gesamtaufstellung. Es wäre ja nicht so schlimm, wenn mal eine Unwucht sozialer Art reinkäme, aber seit 15, 20 Jahren wächst die soziale Ungleichheit in diesem Land und die ist für viele Menschen inzwischen bedrohlich.

Die Menschen haben das Gefühl, die Regierung arbeitet ohne Plan, ohne Konzept, ohne Weitsicht.

Das macht Angst, das verunsichert und es nimmt auch die Bereitschaft zu Opfern. Wenn die Regierung sagen würde: "Schaut mal, wir haben den Auftrag zur ökologischen Transformation und zur sozialen Gerechtigkeit und dabei sollen wir auch das System am Laufen halten" – Das sind sozusagen die drei Parteien der Ampel-Koalition – "Dafür müssen wir harte Zeiten überwinden und das machen wir folgendermaßen", würden die meisten Menschen sagen: "Ist okay, machen wir mit, finden wir einleuchtend." Aber ein solches Konzept, eine solche Strategie war weder bei Corona erkennbar, noch bei den Russland-Sanktionen, noch der Aufstockung der Bundeswehr und ist auch jetzt bei der Energiekrise nicht erkennbar. Und das hinterlässt ein großes Unbehagen und deshalb haben die regierenden Parteien auch durchaus recht, sich zu fragen: "Wohin können solche Proteste führen?"

Das war die Meinung von Professor Thomas Kliche. Dankeschön!

Das Gespräch führte Andreas Neugeboren.

Mehr zu den Protesten:

Quelle: MDR

Dieses Thema im Programm:MDR um 11 | 06. September 2022 | 11:00 Uhr

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