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Unter der LupeKolumne: Kritik an Russland-Sanktionen ist keine Kollaboration

03. September 2022, 17:06 Uhr

Die Stimmung wird immer angespannter, die politische Auseinandersetzung über die Folgen des Ukraine-Krieges nicht nur gereizter, sondern auch verletzender. Kritik an den Sanktionen oder Demonstrationen gegen die hohen Energiepreise werden immer öfter in die Nähe einer politischen Kollaboration mit dem Putin-Regime gerückt. Dabei könnte das Grundrecht auf Meinungsfreiheit Schaden nehmen. Außerdem werden alte Ost-West-Debatten wiederbelebt, meint unser Hauptstadtkorrespondet Tim Herden.

Handwerker aus Halle (Saale) und Umgebung wenden sich in einem Brief an den Kanzler. Sie schreiben, "dass die breite Mehrheit nicht gewillt ist, für die Ukraine ihren schwer erarbeiteten Lebensstandard zu opfern" und fordern ein Ende der Sanktionen. Darauf bezeichnet der Vorsitzende der SPD-Fraktion der Stadt Halle die Äußerung als "Unfug" und "damit schaden sie nicht nur ihrem eigenen Ansehen, sondern auch dem Ansehen unserer Stadt".

In Neuruppin demonstrieren Bürger nach Aufrufen der AfD und der Linkspartei am Rande einer Wahlkreisveranstaltung von Olaf Scholz mit Sprechchören gegen den Kanzler und die Politik der Regierung. Darauf werden sie von Nikolaus Blome in einer Kolumne auf Spiegel-Online als bescheuert bezeichnet.

Intellektuelle fordern in einem offenen Brief ein Ende der Waffenlieferungen und werden dafür vom Publizisten Sascha Lobo und dem Grünen-Politiker Ralf Fücks als "Lumpenpazifisten" oder "Unterwerfungspazifisten" beschimpft.

Kanzler Scholz zeigt Verständnis für Kritik an der Sanktionspolitik

Man sollte Kritikern der Sanktionspolitik gegen Russland und der militärischen Unterstützung der Ukraine mit Argumenten begegnen, nicht mit Beschimpfungen. Und auch die wirtschaftlichen Ängste sollte man ernst nehmen. Auch wenn Russland einen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, gehört zu einer unserer Waffen die Bewahrung des demokratischen Diskurses. Dazu gehören Meinungsfreiheit und auch das Demonstrationsrecht.

Seinen sozialdemokratischen Genossen antwortete Kanzler Olaf Scholz beim Bürgerdialog in Magdeburg gleich selbst. Er bezeichnete den Inhalt des Handwerker-Briefes "als berechtigte Frage" und merkte weiter an, dass diese Meinung in der öffentlichen Debatte "in den letzten Monaten sehr schwer wiederzufinden" gewesen sei und weiter: "Das finde ich, ist ein Problem, weil ich genau weiß, dass das viele umtreibt und jetzt noch mehr, wo die Probleme größer werden … das muss diskutiert werden, dass muss auch gesagt werden können und das finde ich völlig in Ordnung."

Dass die Ängste von Handwerkern und Unternehmern nicht unbegründet und kein Unfug sind, zeigte diese Woche die Situation des Stickstoffwerkes Piesteritz, Produzent von Düngemitteln und "AdBlue" für Lkws. Die hohen Gaspreise führten schon zu einer teilweisen Stilllegung der Produktion. Der Ratschlag aus Berlin, die Preise an die Kunden weiterzugeben, hilft nicht. Viele Abnehmer sind nicht bereit, die Aufschläge zu akzeptieren, oder können sie schlichtweg nicht zahlen – wie zum Beispiel die Bauern. Ab 1. Oktober droht nun Kurzarbeit beim größten Arbeitgeber in der Region. Das könnte zu Protesten führen.  

Demonstrieren ist Teil der politischen Kultur

Und damit zu Nikolaus Blome und dem Fingerzeig auf "ein ostdeutsches Milieu mit Verschwörungsideologien" wie in Neuruppin. Dabei hat der Kollege schlicht übersehen, dass ein paar Tage vorher Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in Bayreuth ähnlich empfangen wurde. Und das liegt bekanntlich in Bayern. Also nicht im Osten.

Natürlich kann und muss man hinterfragen, welche politischen Ziele mit Demonstrationen verfolgt werden. Man darf auch nicht die Augen verschließen, dass Demokratiefeinde das Demonstrationsrecht nutzen. Auch wenn Emotionalität zum Demonstrieren gehört, ist der bei Protesten oft zutage getragene Hass auf die Regierung oder einzelne Politiker inakzeptabel. Allerdings muss man auch fragen, warum es Kräften am linken und rechten politischen Rand bis hinein in die gesellschaftliche Mitte gelingt, durchaus zu mobilisieren. 

Aber es ist nicht nur ein deutsches Phänomen, dass soziale und politische Bewegungen, wie die Gelbwesten in Frankreich oder die katalanische Autonomiebewegung schnell unter radikalen Generalverdacht gestellt werden. In Deutschland begann das Anfang der 2000er-Jahre mit den Demonstrationen der damaligen PDS und WASG gegen die Hartz-Gesetze. Offenbar gehören – anders als in der Vergangenheit der alten Bundesrepublik und am Ende der DDR – Demonstrationen für politische und soziale Ziele nicht mehr zum Klima der politischen Wohlfühl-Republik. Sie werden schnell als demokratiegefährdende Bewegungen abgetan.

Demonstrationen sind ein Mittel der politischen Meinungsäußerung – und zwar nicht nur, wenn es um den Klimaschutz und die Ziele von Fridays for Future geht. Was macht Nikolaus Blome, wenn demnächst auch der DGB oder soziale Bewegungen zu Demonstrationen gegen die hohen Energiepreise und zu geringen Entlastungen aufrufen? Rückt er sie dann auch in die Ecke von Verschwörungstheorien? Die Journalistin Sabine Rennefanz hat Blome ebenfalls bei "Spiegel Online" gut geantwortet: "Es ist ein Klassiker, Menschen die Teilnahme am Diskurs abzusprechen, indem man sie als 'dumm' oder eben 'bescheuert' abstempelt."

Verunglimpfungen sollten vermieden werden

Damit sind wir beim Umgang mit den Kritikern an der militärischen Unterstützung der Ukraine – Intellektuellen, Politikern der SPD-Linken oder dem Christdemokraten Michael Kretschmer. Sie setzen sich für Verhandlungen und einen Waffenstillstand ein und wurden dafür als sogenannte "Unterwerfungspazifisten" oder "Lumpenpazifisten" stigmatisiert, wenn nicht sogar als "Putin-Versteher". Schon diese Wortwahl klingt wie der Vorwurf der Kollaboration mit dem russischen Diktator. Sind der Wunsch und die Suche nach Möglichkeiten einer friedlichen Lösung oder wenigstens Einstellung der Kampfhandlungen so wenig sachlich diskussionswürdig in einem demokratischen Land, selbst wenn seine Erfüllung momentan aussichtslos erscheint? Herabsetzung und Verunglimpfung sollten für Demokraten nicht zum rhetorischen Werkzeug gehören.

Was mir dabei Sorge bereitet ist, dass im Zuge des Krieges und der Solidarität mit der Ukraine sowie der Debatte über Sanktionen und ihre Folgen unsere eigenen demokratischen Garantien drohen, Schaden zu nehmen. Pauschalurteile, Denkverbote, persönliche Verletzungen und auch neue Ost-West-Debatten sollten im Streit um die Frage Krieg und Frieden – und um nichts Geringeres geht es hier – unterbleiben. Erinnert sei an einen Satz von Rosa Luxemburg, der vor über dreißig Jahren gern gebraucht wurde: "Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden."

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 24. August 2022 | 06:00 Uhr

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