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Viele Kommunen beklagen, dass sie wegen der hohen Schulden nicht genug Geld zum Investieren haben. Bildrechte: MDRdata

DatenanalyseWelche Kommunen besonders tief in der Schuldenfalle stecken

30. April 2024, 18:50 Uhr

Viele Kommunen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind hochverschuldet. Bürgermeister beklagen, dass Personal fehlt, Straßen nicht saniert werden können, sich immer weniger Menschen in der Lokalpolitik engagieren. Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger? Und welche Gemeinden sind besonders betroffen? Eine Analyse.

Im Westen der Lutherstadt Eisleben liegt die Kreisfelder Gasse, rund 300 Meter lang, einige Meter breit und mit uralten Steinen gepflastert. "Vielleicht sind dort früher sogar noch Kutschen drübergefahren", sagt Bürgermeister Carsten Staub. Eigentlich müsste die Kreisfelder Gasse dringend saniert werden: Das glatte Pflaster sei gefährlich für Radfahrer und das Regenwasser fließe durch die Gosse. Mehr als eine Million Euro würde der Umbau kosten, sagt Staub. "Bis wir das aus Eigenmitteln hinkriegen, müssten wir jahrelang sparen."

Eisleben hat viele Millionen Euro Schulden, laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts waren es zum Jahresende 2022 allein bei nicht-öffentlichen Einrichtungen wie Banken und Privatunternehmen rund 3.400 Euro pro Kopf. Eine Datenanalyse des MDR zeigt jetzt: Viele Gemeinden, Städte und Landkreise in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stecken in einer ähnlichen Lage und schultern riesige Schuldenberge.

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Mehr über die Daten: Was sind integrierte kommunale Schulden?

Bei ihrer Berechnung der integrierten kommunalen Schulden addieren die Statistischen Ämter die Schulden der Kern- und Extrahaushalte mit Schulden der öffentlichen Fonds, Einrichtungen und Unternehmen (FEU), an denen die Kommunen beteiligt sind. Das können beispielsweise gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften oder Abwasserverbände sein. Dieses Vorgehen ermöglicht einen Vergleich der Schuldenstände, der unabhängig davon ist, ob eine Kommune bestimmte Aufgaben an Unternehmen mit kommunaler Beteiligung ausgelagert hat.

Dabei werden ausschließlich die Schulden beim nicht-öffentlichen Bereich in die Berechnung einbezogen, also etwa bei Kreditinstituten und privaten Unternehmen. Viele Kommunen haben außerdem noch Schulden beim öffentlichen Bereich, also etwa bei Bund und Ländern.

Um zu verstehen, warum das so ist, muss man mit Lokalpolitikerinnen und Wissenschaftlern sprechen, es ist ein von Zahlen und Bürokratie durchdrungenes Thema. Aber wenn man sich die Einnahmen und Ausgaben der Kommunen anschaut, wenn man die strukturellen Unterschiede zwischen Bundesländern aufschlüsselt, dann begreift man, in welch auswegloser Lage einige Bürgermeister stecken und warum auch viele Bürgerinnen und Bürger darunter leiden. 

Eisleben: Schuldenberg wächst Jahr für Jahr

In Eisleben beträgt der jährliche Haushalt rund 40 Millionen Euro. Ein Großteil davon ist für Aufgaben reserviert, zu denen die Stadt gesetzlich verpflichtet ist: Sie muss dafür sorgen, dass die Feuerwehr genug Einsatzfahrzeuge hat, dass Schulen und Straßen saniert werden, dass die Abwasser- und Abfallentsorgung funktioniert. 

Darüber hinaus gibt es freiwillige Ausgaben: Zuschüsse zu Kita-Gebühren, zum Theater, für Vereine, für die Instandhaltung von Parks, Bädern und Sportplätzen. "Das sind die Ausgaben, mit denen man glänzen kann", sagt Bürgermeister Staub. Er nennt sie "moralische Verpflichtungen". Staub stehen dafür rund 1,6 Millionen Euro zur Verfügung – weniger als fünf Prozent des Eisleber Haushalts. 

Obwohl die freiwilligen Ausgaben so niedrig sind, wächst der Schuldenberg. Jedes Jahr gebe die Stadt einige Hunderttausend Euro mehr aus, als sie durch Steuern, Gebühren und Zuweisungen einnehme, sagt Staub.

Einer der Gründe sind die hohen Kassenkredite: unkomplizierte, schnelle Finanzspritzen, die Kommunen aufnehmen, um laufende Kosten wie Gehälter zu zahlen. Sie sind eine Art Dispo für Kommunen. Das Problem dabei: Häuft eine Kommune die Kassenkredite an, statt sie schnell abzuzahlen, wird der Dauerdispo zur Zinsfalle.

Unter Experten gelten hohe Kassenkredite als Indikator dafür, dass etwas schiefläuft. Übersteigen sie die Schwelle von 100 Euro pro Kopf, gelten sie als Altschulden. 

In Sachsen-Anhalt sind die Altschulden ein flächendeckendes Problem

Eisleben hat in den vergangenen Jahren zwar viele Altschulden getilgt, Staub zufolge betragen sie aber immer noch fast 400 Euro pro Kopf. Wegen der gestiegenen Raten zahlt die Stadt dafür dieses Jahr voraussichtlich mehrere Hunderttausend Euro Zinsen. "Das ist das, woran wir kranken", sagt Staub. 

Ein Blick auf die mitteldeutsche Karte zeigt: In Sachsen und Thüringen gibt es kaum Kommunen mit Altschulden. In Sachsen-Anhalt sind sie hingegen ein flächendeckendes Problem. In Mansfeld-Südharz und in Halle sind die Pro-Kopf-Altschulden am höchsten. Insgesamt zahlten die Kommunen in Sachsen-Anhalt vergangenes Jahr 46 Millionen Euro Zinsen für Investitions- und Kassenkredite – viel Geld, das woanders fehlt.

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Zum Beispiel in Bad Schmiedeberg, einer 8.000-Einwohner-Stadt an der Grenze zu Sachsen. Bürgermeisterin Heike Dorczok zufolge liegen die Altschulden bei mehr als 2.500 Euro pro Kopf. Seit vielen Jahren sei man zum Sparen gezwungen. Die Auswirkungen spüre man an jeder Ecke.

Die Feuerwehr braucht eine neue Drehleiter? Kein Geld. Personal, um Bad Schmiedeberg – immerhin ein anerkannter Kurort – touristisch zu vermarkten? Kein Geld. Die Straßen? "Eine reine Flickschusterei", sagt Dorczok. Neues Spielzeug für den Kindergarten? "Es kann nicht sein, dass ich mit meinen Mitarbeiterinnen über solche Dinge streiten muss." Trotz der Sparkonzepte würden die Fehlbeträge im Haushalt von Jahr zu Jahr steigen. "Von alleine kommen wir von diesen Schulden nie wieder runter."

Kommunen in Sachsen-Anhalt haben niedrige Steuereinnahmen

In Sachsen-Anhalt gebe es seit zwei Jahrzehnten "flächendeckende Probleme", sagt René Geißler, Professor für öffentliche Verwaltung an der Technischen Hochschule Wildau und Autor zahlreicher Studien zu Kommunalfinanzen. Noch angespannter sei die Lage zwar im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen, wo manche Städte gar Schulden in Milliardenhöhe haben. "Aber im ostdeutschen Vergleich ragen Sachsen-Anhalts Kommunen negativ heraus."

Um zu verstehen, warum das so ist, hilft ein tieferer Blick in die Einnahmen und Ausgaben der Kommunen. Sie finanzieren sich unter anderem aus Gewerbe- und Grundsteuer sowie Teilen der Einkommens- und Umsatzsteuer. "Wenn eine Gemeinde kein Gewerbe hat, eine alternde und schrumpfende Bevölkerung, dann kann es schwierig werden", sagt Geißler – denn dann fehlen die Einnahmen. Finanzwissenschaftler der Universität Leipzig erstellten vergangenes Jahr im Auftrag des sachsen-anhaltischen Finanzministeriums ein Gutachten, das zu dem Schluss kommt, dass die Steuereinnahmen der Kommunen in Sachsen-Anhalt unter allen Bundesländern am geringsten sind.

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Einen großen Teil ihrer Einnahmen erhalten die Kommunen aus Zuweisungen von Bund und Land. 2023 betrug die sogenannte Finanzausgleichsmasse in Sachsen-Anhalt 1,846 Milliarden Euro; für 2024 will das Land sie auf 2,095 Milliarden Euro aufstocken. "Die Landesregierung hat nachgesteuert, das muss man anerkennen", sagt Bernward Küper vom Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt. Das Problem: Auch die Ausgaben seien in die Höhe geschossen. "Die hohen Tarifabschlüsse, die wachsenden Sozialausgaben und die Inflation pulverisieren jegliche Steigerungen beim Finanzausgleich."

Kommunaler Finanzausgleich in Sachsen-Anhalt

Gemäß der Verfassung von Sachsen-​Anhalt sorgt das Land dafür, dass die Kommunen über Finanzmittel verfügen, die zur angemessenen Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind. Die unterschiedliche Finanzkraft der Kommunen ist dabei angemessen auszugleichen. Die Umsetzung erfolgt durch das Finanzausgleichsgesetz. Den Kommunen werden Finanzmittel in Ergänzung ihrer eigenen Einnahmen zur Verfügung gestellt, damit sie ihre eigenen und die ihnen übertragenen Aufgaben erfüllen können. Wie viele Landesmittel den Kommunen zugeteilt werden, hängt von deren eigenen Einnahmen ab. (Quelle: Finanzministerium Sachsen-Anhalt)

Bernward Küper ist Landesgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes Sachsen-Anhalt. Bildrechte: picture alliance/Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

Viele Kommunen beklagen außerdem, dass die Liste der verordneten Pflichtaufgaben immer länger wird, ohne dass der Bund die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellt. Kommunen sollen beispielsweise viele Millionen Euro zur Wärmewende beisteuern und den Anspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschüler umsetzen. "Eigentlich sollte gelten: Wer bestellt, der bezahlt", sagt Küper. "Viele Gesetzesvorhaben werden aber nicht ausreichend finanziert."

Die finanzielle Schieflage vieler Gemeinden in Sachsen-Anhalt ist nicht entstanden, weil die Bürgermeister und Gemeinderäte dümmer sind als in Sachsen.

René Geißler | Professor für öffentliche Verwaltung

Damit die kommunalen Schulden trotzdem nicht ausufern, gibt es in jedem Bundesland Aufsichten, die Haushalte genehmigen und über Kreditwünsche entscheiden. Sie sind die Schuldenbremsen der Kommunen. Die finanzielle Schieflage vieler Gemeinden in Sachsen-Anhalt sei nicht entstanden, weil "die Bürgermeister und Gemeinderäte dümmer sind als in Sachsen", sagt Geißler. Sondern: "Entweder die Aufsichten haben bei manchen Entscheidungen bewusst weggeschaut oder es ist schlichtweg zu wenig Geld an die Kommunen geflossen."

Was bei der Beurteilung der finanziellen Lage von Kommunen erschwerend hinzukommt: Hohe Schulden sind zwar Indikatoren für eine Schieflage, aber nicht per se schlecht. Viele Schulden sind notwendig, um beispielsweise Bauprojekte zu finanzieren. Solange eine Gemeinde ihre Aufgaben erfüllt und Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sind, gilt ein Haushalt als gesund. "Problematisch wird es dann, wenn man jedes Jahr ein Minus einfährt", sagt Geißler. Der wachsende Schuldenberg minimiert jeglichen Handlungsspielraum.

Dann sei die Kommune gezwungen, zu sparen. Sie müsse Steuern oder Gebühren anheben und könne "eben nicht die Straße oder den Sportplatz sanieren". Solche Konsolidierungskonzepte seien in Sachsen-Anhalt weit verbreitet.

"Wir stehen immer Oberkante Unterlippe"

Zum Beispiel in der Lutherstadt Wittenberg. Der Haushalt sei ein Dauerthema im Stadtrat, es sei "eine Elendsverwaltung", sagt der parteilose Bürgermeister Torsten Zugehör: "Wir stehen immer Oberkante Unterlippe." Viele seiner Kolleginnen und Kollegen seien frustriert; es falle immer schwerer, Menschen zu finden, die sich in der Lokalpolitik engagieren wollen. Kommunen seien vom System schlichtweg nicht ausreichend finanziert. 

Dass es in Thüringen besser laufe, bezweifelt Zugehör: Die dortigen Aufsichten seien strenger als in Sachsen-Anhalt, was Zugehör zufolge zwar zu ausgeglichenen Haushalten und weniger Altschulden führt – aber auch zu einem gewaltigen Sanierungsstau. "Die lassen ihre Einrichtungen einfach verrotten", sagt Zugehör. "Das sind undokumentierte Schulden, die an die nächste Generation weitergegeben werden."

Einfache Lösungen für die finanzielle Misere gibt es derweil keine. Im Koalitionsvertrag der Ampel ist zwar von einer "gemeinsamen, einmaligen Kraftanstrengung des Bundes und der Länder" die Rede, um Kommunen von ihren Altschulden zu entlasten. Von einem solchen Schuldenschnitt würden jedoch vermutlich hauptsächlich jene Bundesländer und Kommunen profitieren, die in der Vergangenheit schlecht gewirtschaftet haben. Man müsste also auch Städten und Gemeinden mit einer gesunden Finanzlage entgegenkommen.

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Ein Sprecher des Innenministeriums Sachsen-Anhalts verweist auf MDR-Anfrage auf die hohe Eigenverantwortung der Kommunen: Diese hätten  "durch die ihnen grundgesetzlich garantierte Finanzhoheit" einen "erheblichen Einfluss auf ihre Finanzlage" und würden "nicht darum herumkommen, deutlich höhere Beiträge zur Haushaltskonsolidierung und zum Schuldenabbau zu leisten."

Zudem sei fraglich, ob es Sachsen-Anhalts Kommunen tatsächlich so schlecht gehe: 2022 habe das Finanzierungsdefizit bei 20 Millionen Euro gelegen, in Sachsen seien es 340 Millionen Euro gewesen, Thüringen sei auf einen Überschuss von 370 Millionen Euro gekommen. Allein aus den höheren Altschulden lasse sich "nicht schließen, dass die Finanzlage der Kommunen in Sachsen-Anhalt angespannter ist, als die der Kommunen in Sachsen und Thüringen."

Sachsen-Anhalt das einzige Land, das "keine wirkliche Verbesserung" erreichen konnte

Laut Experte Geißler ist in Fachkreisen jedoch unstrittig, dass die Kommunen in Sachsen-Anhalt finanziell schlechter dastehen als in benachbarten Bundesländern. Das Innenministerium habe ein positives Jahr herausgegriffen. Das genüge jedoch nicht, stattdessen müsse man mehrjährige Vergleiche anstellen.

René Geißler ist Professor für öffentliche Verwaltung an der Technischen Hochschule Wildau. Bildrechte: René Geißler

Ein Bericht der Bertelsmann-Stiftung kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass Sachsen-Anhalt das einzige Bundesland sei, das zwischen 2017 und 2022 ausgehend von erheblichen Kassenkrediten "keine wirkliche Verbesserung" erreichen konnte. Auch die finanziellen Reserven der Kommunen sind demnach geringer als in den meisten anderen Bundesländern.

Zwar trage jede Kommune eine gewisse Verantwortung für die eigene Verschuldung, sagt Geißler. "Aber wenn man nicht das Glück hat, dass Intel vor der Haustür eine Fabrik baut, dann ist die Finanzpolitik des Landes ein ausschlaggebender Faktor für die Finanzlage einer Kommune."

Geißler sieht daher hauptsächlich die Landesregierung in der Pflicht, den Kommunen in Sachsen-Anhalt Wege aus der Schuldenfalle zu ermöglichen. Das Land könne beispielsweise noch mehr Geld aus seinem Etat in die Finanzausgleichsmasse schießen. Das würde Gemeinden wie Eisleben, Wittenberg und Bad Schmiedeberg entlasten – darunter würde dann aber wiederum der Haushalt des Landes leiden. Kurzum: Die Lage sei kompliziert. "Wenn man über so viele Jahre in die roten Zahlen reingerutscht ist", sagt Geißler, "dann gibt es keinen einfachen Weg mehr hinaus."

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MDR (David Wünschel)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 30. April 2024 | 08:00 Uhr

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