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Bundestagswahl-AnalyseOstdeutschland wählt die AfD nicht aus Protest

27. September 2021, 15:36 Uhr

Deutschland hat gewählt, eine klare Regierungsoption zeichnet sich aber noch nicht ab. Die SPD liegt vor CDU und CSU. Grüne und FDP dürften am Ende zu Königsmachern werden. Sie alle haben vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen. Die Partei konnte in Thüringen und Sachsen die meisten Zweitstimmen holen. Ein Rechtsrutsch, der aus Sicht mehrerer Politikwissenschaftler nicht mehr mit Protestwählern zu erklären ist.

Nach 16 Jahren Angela Merkel und acht Jahren Großer Koalition werden die Karten in der Bundespolitik neu gemischt. Wer mit wem kann, wer mit wem will, das werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Klar ist: Olaf Scholz und Armin Laschet wollen beide Kanzler werden, sind aber auf die Unterstützung von Grünen und FDP angewiesen. Die Verhandlungen dürften zäh werden.

Eine rein konservativ-liberale oder rot-grün-rote Koalition ist rechnerisch nicht möglich. Den Wunsch-Partnern fehlen die Wunsch-Mehrheiten. In egal welcher Konstellation würden schmerzhafte Kompromisse nötig sein, sagt Torsten Oppelland, Politikwissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dann könnte es auch ganz schnell gehen:

FDP und Grüne müssen sich jetzt einig werden und wollen als erstes untereinander – ohne SPD und Union – in Verhandlungen treten. Davon wird sehr viel abhängen. Wenn sich Grüne und FDP auf einen Koalitionspartner einigen, könnte es überraschend schnell gehen. 

Torsten Oppelland | Politikwissenschaftler der Universität Jena

Osten: AfD und SPD vor CDU, Linke schrumpft

In den ostdeutschen Bundesländern zeigt sich ein anderes Bild als im Rest der Bundesrepublik. Die AfD gewinnt in Sachsen erneut und auch in Thüringen die Bundestagswahl mit den jeweils meisten Zweitstimmen. Während die SPD in Sachsen-Anhalt knapp vor der AfD landet und die Union in Sachsen und Thüringen auf den dritten Platz verweist, ist die CDU mit Rekordverlusten konfrontiert. Oppelland sieht im Osten relativ schwache Parteibindungen:

Eine dramatische Wechselwahl: Die mitteldeutschen Wähler sind sehr unbefangen, wenn es darum geht, ihre Parteipräferenzen zu wechseln und auch eine Partei zu wählen, die eigentlich schon abgeschrieben war. 

Torsten Oppelland

Die Hochburgen der Linken sind nahezu pulverisiert – ohne die gewonnenen Direktmandate hätte die Linke es nicht mal in den Bundestag geschafft. Die FDP kann sich im Osten halten, die Grünen gewinnen dazu, aber längst nicht so stark wie im Bund.

Forscher: AfD-Erfolg belegt rechtsextreme Einstellungen

Die AfD wird in Thüringen und Sachsen stärkste Kraft, und kann darüber hinaus mit Abstand die meisten Direktmandate gewinnen. In Sachsen-Anhalt und Brandenburg verliert die Partei zwar leicht an Stimmen, kann jedoch ihre starken Ergebnisse verstetigen. In allen vier Bundesländern werden die Landesverbände der AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft.

Während 2017 viele Wahlbeobachter die starken Ergebnisse der AfD in den mitteldeutschen Bundesländern als Protestwahl bewerteten, könne das in diesem Jahr nicht mehr gelten, meint Rechtsextremismusforscher Oliver Decker vom Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung:

Es zeigt sich, dass es im Osten eine große Zahl von Menschen gibt, die in der AfD ihre politische Heimat findet. Die Interessen dieser Menschen sind offensichtlich antidemokratisch, rechtsextrem und völkisch.

Oliver Decker | Rechtsextremismusforscher

Extremiusmusforscher sieht AfD nicht als neue Volkspartei im Osten

Der Politikwissenschaftler Hans Vorländer spricht bei den AfD-Anhängern gar von einem "gefestigt, hermetisch abgeriegelten Milieu, das sich weiter abgrenze".

Diese Einstellungen in der ostdeutschen Bevölkerung seien nicht neu, fänden nur in der AfD ein politisches Ventil, erklärt Decker. Gerade bei jungen Wählern, die unter anderem in Sachsen besonders häufig die AfD wählten, sei dies eine "beunruhigende Entwicklung". Zum Vergleich: im Bundesdurchschnitt landet die AfD bei Erstwählern auf dem letzten Platz.

Eine neue Volkspartei des Ostens kann Decker in der AfD trotzdem nicht erkennen. 

Volksparteien integrieren verschiedene Bevölkerungsgruppen. Das tut die AfD nicht, sie wird für antidemokratische Inhalte gewählt, vertritt aber nur Menschen mit diesem Weltbild.

Oliver Decker | Rechtsextremismusforscher

Diese Themen ziehen im Osten

Warum wählt der Osten so anders als der Bundesdurchschnitt? Es dürfte vor allem am noch immer weitverbreiteten Gefühl einer Ungleichheit liegen. 30 Jahre nach der Wende verdienen Menschen mit mittlerem Einkommen im Osten immer noch ein Viertel weniger als Westdeutsche, die Renten sind geringer, die Arbeitslosigkeit größer. Das zeigt sich auch in der Selbstwahrnehmung der Ostdeutschen.

Denn mehr als die Hälfte der Ostdeutschen ist der Ansicht, dass es in Deutschland "eher ungerecht zugeht". 82 Prozent stimmen der Aussage zu, der Reichtum sei ungerecht verteilt. Die soziale Frage ins Zentrum des Wahlkampfes zu stellen, sei eines der Wahlthemen im Osten und auch einer der Hauptgründe für die Stimmengewinne der SPD, erklärt Oppelland.

Die SPD habe in den letzten Wochen vor der Wahl ein enormes Momentum entwickelt. Erst als sie in den Umfragen eine Siegchance hatte, traute man ihr auch zu, einige Probleme der sozialen Frage anzupacken. Decker zufolge hat die AfD im Osten vor allem mit anderen Themen wie der Migrations- und Coronapolitik gepunktet. 

Dreierbündnisse: der Osten macht es vor

So stark sich der Osten, vor allem die mitteldeutschen Bundesländer, auch im Wahlverhalten vom Westen unterscheidet – eines ist hier schon lange Praxis. Egal ob Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen oder Brandenburg: die Landesregierungen bestehen aus Drei-Parteien-Bündnissen. Dies erfordert ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft und Verhandlungsgeschick.

Von einer Neuauflage der Großen Koalition spricht in Berlin derzeit kaum jemand. Gesucht wird ein Trio, das Parteigrenzen zu überbrücken weiß. Was im Osten seit den 1990er Schule machte, könnte den Bundesparteien als Schablone dienen. Oppelland weist jedoch darauf hin, dass die Mehrheitsfindung im Bund noch viel komplexer als auf Landesebene sei.

AfD will und kann nicht mitregieren

Das vorläufige amtliche Wahlergebnis steht fest. Klar ist: die Wahl wurde nicht im Osten entschieden, der Osten grenzt sich sogar klar vom Rest der Bundesrepublik ab. Eine große Anzahl der Abgeordneten, die aus den neuen Bundesländern in den Bundestag entsandt werden, sind Mitglieder einer Partei, die zum Teil völkisch-nationale und extremistische Positionen äußert, die keinen Konsens sucht. 

Die AfD ist eine Partei, die weder mitregieren will, noch mangels politischem Willen ihrer Mitbewerber überhaupt mitregieren kann, sich jetzt aber durch den erneuten Einzug in den Bundestag politische Stiftungsgelder in zweistelliger Millionenhöhe für ihre Desiderius-Erasmus-Stiftung sichert, um Bildungsarbeit zu betreiben. Decker erwartet dadurch auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Gestaltung ostdeutscher Bundespolitik.

Klar ist aber auch, dass trotz der hohen Ergebnisse der AfD rund 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen die Partei nicht gewählt haben. Die SPD feiert im Osten ein Comeback, die Union muss sich erst wiederfinden, die Linke bricht ein.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 27. September 2021 | 09:00 Uhr

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