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Agentur-Mitarbeiterin Ivana Rohr: In Wittenberg wird versucht, mit einem Stadtlabor die Innenstadt zu beleben. Bildrechte: MDR/André Damm

"Altstadtretter" im EinsatzStadtlabor in Wittenberg will Innenstadt beleben

26. April 2024, 09:37 Uhr

Mit einer witzigen Idee will das neue Stadtlabor die historische Altstadt in Wittenberg beleben und der Verödung des Zentrums entgegenwirken. Im Stadtlabor sollen sich Menschen beim gemeinsamen Essen kennenlernen. Dafür wird Geschirr gesammelt.

Ein typischer April-Tag in Wittenberg. Der Himmel ist wolkenverhangen, ab und zu fallen einige Regentropfen, der Wind lässt frösteln. Die Touristen – darunter viele aus asiatischen Ländern – zieht es zu den Welterbe-Attraktionen.

Die Tour beginnt meist an der Schlosskirche, wo Luther und Melanchthon bestattet wurden. Dann geht es weiter zum Marktplatz, an Stadtkirche und Cranachhöfen vorbei bis zum Lutherhaus. Verlaufen kann sich in Wittenberg niemand – die Collegienstraße führt wie eine lange Linie durch das Stadtzentrum.

Hoher Leerstand in der Innenstadt

In Wittenberg kommen Touristen, die sich für Reformation, aber auch für Architektur interessieren, auf ihre Kosten. Wer dagegen bummeln und shoppen will, steht häufig vor verschlossenen Türen. Der Leerstand ist alarmierend. Etwa 40 bis 50 Ladengeschäfte sind derzeit verwaist.

"Der Handel in den Innenstädten geht schon seit Jahren zurück", berichtet Ivana Rohr von der Agentur Endboss aus Hannover, die sich im Auftrag der Stadt Wittenberg um die Altstadt kümmern soll. "Die Corona-Pandemie und der damit aufkommende Online-Handel haben die Krise enorm verschärft. Das betrifft aber nicht nur Wittenberg. Das ist bundesweit so." Sie glaubt deshalb nicht,  dass die meisten leerstehenden Geschäfte wieder zu Shoppingadressen werden.

Online first

Die Zeit sei vorbei, viele Kundinnen und Kunden würden lieber am Computer vom Sofa aus bestellen. Online habe man mehr Auswahl, könne leichter Schnäppchen machen, sich die Ware kostenlos hin-und herschicken lassen. Es werde zwar weiterhin, so Ivana Rohr, Einzelhandel in der Innenstadt geben, aber nicht mehr so verbreitet wie früher.  Das ist die nüchterne wie schmerzvolle Analyse.

Der Kampf gegen die "Verödung"

Doch wie geht eine Stadt wie Wittenberg damit um, die nicht unwesentlich vom Tourismus lebt? Der parteilose Oberbürgermeister Torsten Zugehör hat schon vor Jahren erklärt, einer Verödung des Stadtzentrums nicht tatenlos zusehen zu wollen. Die Initiative "Kauf lokal" wurde gegründet, außerdem sind Sitzgelegenheiten, Blumenkübel und Wasserspiele aufgestellt worden, vor der Jugendherberge stehen neue Spielgeräte.

Der Rathauschef ließ sogar prüfen, ob man  kostenloses Parken in der Altstadt einführen könne – nach holländischem Vorbild. Doch diesem Plan schob die Kommunalaufsicht wegen Wittenbergs prekärer Finanzlage einen Riegel vor.

Stadtlabor vom Endboss

Zugehör ist aber kein Typ, der schnell aufgibt. Gleichzeitig hat er auch kein Problem damit, Hilfe von außen zu holen. Auch deshalb wurde die Agentur Endboss aus Hannover verpflichtet, gefördert mit Bundesmitteln. In den Medien erhielten die jungen Stadtentwickler als sogenannte "Altstadtretter" bereits  Vorschusslorbeeren.

Zugehör findet: "Wir etablieren unsere Altstadt als unseren Lieblingsort. Wir sind froh, dass die Agentur Endboss auch bei der Bürgerbeteiligung völlig neue Wege geht, ganz andere Impulse setzt. Das wird uns als Stadt weiter bringen."

Das Endboss-Team – allesamt junge Frauen und Männer – nutzen dabei ein seit Jahren leerstehendes Kaufhaus mitten am Marktplatz als Büro und Veranstaltungsort. Der Name ist irgendwie Programm: Stadtlabor.

Im Stadtlabor können sich Menschen beim gemeinsamen Essen kennenlernen. Bildrechte: MDR/André Damm

Treffpunkt für alle

Immer wieder muss Ivana Rohr erklären, was es damit auf sich hat. "Das Stadtlabor ist ein Ort, der leistet nichts, außer dass er vorhanden ist. Er öffnet sich jetzt. Seit März gibt es ein Programm." Schriftsteller, Karikaturisten, Künstler kommen im Stadtlabor zu Wort und werden gehört. Außerdem soll es ein Treffpunkt für die Wittenberger werden.

Gerade wurde zusammen mit der Holzwerkstatt vom Internationalen Bund in Wittenberg und Studierenden der Burg Giebichenstein in Halle das Mobiliar gefertigt: Tische, Stühle, Regale und sogar ein riesiges Küchenmodul, an dem bis zu 30 Leute gemeinsam kochen könnten. Ivana Rohr ist stolz auf das neue Inventar, das sie gern benutzt sehen würde.

Geschirr für Mittagessen gesammelt

"Mir schwebt vor, dass Wittenbergs Einwohner oder Arbeitskollegen sich hier zum Mittagsessen treffen. Sie können selbst kochen oder ihre mitgebrachte Suppe aufessen oder einfach nur reden." Das Einzige, was bisher fehlte, war das Geschirr. Deshalb startet Endboss Mitte April einen Aufruf in den sozialen Medien, dass Tassen, Teller, Schalen und Besteck benötigt werden. Es wäre doch charmant, statt zu Ikea zu gehen, lieber Einzel-Stücke von den Wittenbergern zu bekommen." Ein buntes Potpourri wolle man haben, bunt wie Wittenberg eben sei.

Nicht einmal zwei Wochen später ist die kleine Küche des Stadtlabors vollgestellt mit Geschirr. Es ist kaum noch Platz. Die gewünschten Einzelstücke sind abgegeben worden, aber nicht so viele wie erhofft.

Endboss-Mitarbeiterin Kristina Gergert beim Auspacken des gespendeten Geschirrs. Bildrechte: MDR/André Damm

Berührungsängste beim Kochen abbauen

Endboss-Mitarbeiterin Kristina Gergert zeigt auf einen Tisch mit mehreren Kaffeeservices. "Ja, von denen haben wir jetzt reichlich. Eigentlich ist jetzt alles ausreichend da. Tassen in allen Formen und Farben, Teller auch. Es fehlt jetzt nur noch Besteck."

Kristina glaubt, dass das gemeinsame Kochen auch Berührungsängste abbaut, ins Stadtlabor zu kommen. Gerade bereitet sie eine neue Veranstaltungsreihe mit dem Titel "Neu in der Stadt" vor. "Es können Menschen sein, die erst vor kurzem hergekommen sind oder welche, die schon länger hier wohnen, aber noch nicht angekommen sind. Oder Leute, die neue Menschen in der Stadt kennenlernen wollen. Das ist als ungezwungene Austauschplattform gedacht, wo jeder kommen und gehen kann wie er will oder nur mal gucken kommt, ob es neue Gesichter gibt."

Solche Formate sind für eine Stadt wie Wittenberg neu. Aber die Wittenberger scheinen sich darauf einzulassen, das beweisen die ersten Veranstaltungen im Stadtlabor. Inzwischen reißt an diesem typischen April-Tag in Wittenberg die Wolkendecke etwas auf. Gleich wird sich sogar die Sonne zeigen.

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MDR (André Damm)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 26. April 2024 | 08:00 Uhr

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