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SchuleProfessor: Thüringen hat keinen Lehrer-, sondern einen Stundenmangel

07. Februar 2023, 12:00 Uhr

"Es gibt genug Lehrer in Thüringen. Die unterrichten aber zu wenig - und das mit teils fadenscheinigen Begründungen." Zu diesem Schluss kommt der Jenaer Uniprofessor für Sozialpädagogik und Ex-Bildungsstaatssekretär Roland Merten in seiner neuen Studie. Er spricht von einem Stundenmangel. Einen Lehrermangel in Thüringen sieht er nicht. Dafür hagelt es heftige Kritik.

von Katja Bomeier, MDR THÜRINGEN

Der Jenaer Sozialwissenschaftler und Ex-Bildungsstaatssekretär Roland Merten sieht in Thüringen keinen Lehrermangel, sondern einen Stundenmangel. Für seine Studie hat Merten die vergangenen 30 Jahre ausgewertet. Danach habe sich das Verhältnis von Lehrern und Schülern seit der Wende verbessert, die Unterrichtsversorgung allerdings verschlechtert.

Archivbild von Roland Merten: Er war von 2009 bis 2014 Staatssekretär im Thüringer Bildungsministerium. Bildrechte: Isabelle Fleck/MDR

Inzwischen gehen laut Merten, der das Institut für Erziehungswissenschaftten an der Uni Jena leitet, mehr als 20 Prozent des Unterrichtsvolumens für sogenannte Abminderungsstunden drauf. Heißt: Jede fünfte Stelle würde für andere Aktivitäten genutzt als zum Unterrichten. Umgerechnet seien das knapp 3.000 Stellen. Der dadurch verursachte Unterrichtsausfall koste das Land jedes Jahr 176 Millionen Euro.

Abminderungsstunden als Hauptgrund

Die Ursache dafür sieht Merten unter anderem in den sogenannten Abminderungsstunden. Unter anderem bekommen Lehrer in Thüringen ab 55 Jahren zwei Abminderungsstunden - sie brauchen also zwei Stunden weniger zu unterrichten. Das gebe es in keinem anderen Berufszweig, sagt Merten, der unter SPD-Bildungsminister Christoph Matschie von 2009 bis 2014 Staatssekretär für Schulen in Thüringen war.

Abminderungsstunden gibt es aber auch für Klassenleiter oder Lehrer, die Referendare einarbeiten oder Arbeitsgemeinschaften betreuen. Merten schlägt vor, diese Aufgaben ohne Ausgleich unter den Lehrern rotieren zu lassen, so dass jeder mal dran sei und sich die Mehrarbeit gleichmäßig verteile. Damit könne auch wieder mehr unterrichtet werden.

Ministerium kritisiert Studie

Für das Thüringer Bildungsministerium stellt die Studie laut einem Sprecher keine solide Grundlage für politische Maßnahmen dar. Sie enthalte rechnerische Unschärfen und gehe in zentralen Schlussfolgerungen sachlich grob fehl. So sei der Lehrermangel in Thüringen Realität.

Außerdem gäbe es Abminderungsstunden nicht ohne Grund etwa für die Aufgaben von Schulleitungen, als Klassenleiter, für Nachwuchsausbildung oder Fortbildungen. Zudem würden in der Studie auch Unterrichtsstunden eingerechnet, die etwa durch langzeiterkrankte Lehrer oder Lehrer in Elternzeit gar nicht gegeben werden könnten. Und auch, dass es ein Altersproblem bei Lehrern gibt, wird laut Bildungsministerium durch Merten völlig außer Acht gelassen.

Lehrerverband spricht von Rechenfehlern

Für seine Aussage wird Merten auch vom Thüringer Lehrerverband kritisiert. Sprecher Tim Reukauf wirft ihm Rechenfehler vor. Als Grundlage würde in der Studie die reine Unterrichtszeit von 45 Minuten dienen. Dass so ein rechnerisches Defizit entstehe, verzerre das Bild.

Zum Unterricht gehöre auch die Vor- und Nachbereitung, Gespräche mit Eltern und Schülern, die Kontrolle von Klassenarbeiten. Außerdem ließen sich die Aufgaben als Klassenleiter oder die Betreuung von Lehramtsanwärtern nicht nebenbei ableisten. Darüber hinaus entscheiden laut Reukauf nicht die Lehrer darüber, ob und in welchem Umfang sie Abminderungsstunden erhalten.

Elternvertretung: Merten treibt Keil zwischen Eltern und Lehrer

Die Gründe für Abminderungsstunden auf den Prüfstand zu stellen - und auch zu prüfen, ob sie noch zeitgemäß seien, hält Claudia Koch von der Landeselternvertretung für richtig. Die Art und Weise von Merten aber sei grundfalsch, so Koch im MDR THÜRINGEN-Interview. Dadurch treibe er einen Keil zwischen Eltern und Lehrer. Vielmehr habe es Merten in seiner Zeit als Bildungsstaatssekretär versäumt, mehr Lehrer einzustellen, um dem aktuellen Lehrermangel vorzubeugen.

Das sagen unsere User dazu:

Lebhaft ging es zu. User Cornelius wie etliche andere vermutlich selber Lehrer: "Grundschullehrer haben 27 Stunden Unterricht. Dann bleiben noch 13 Stunden für Vor- und Nachbereitung, Schülergespräche, Elterngespräche, Elternversammlungen, Vorbereitung/Durchführung von Schulveranstaltungen (Programme, Schulfeste usw.), Dienstberatungen, Fachkonferenzen, Klassenkonferenzen, Absprachen mit Erziehern, Aufsichten, Vorbereitung/Durchführung von Projekttagen, Wandertagen, Klassenfahrten, Zeugnisse schreiben, Schulhaus mitgestalten, Klassenraum putzen." Als Nico Walter fragte "Und die Pausenzeiten?" kam als Antwort von Insomnia: "Was erdreisten wir Lehrer uns, auch noch die Pausenzeiten als Arbeitszeit zu zählen. Hofpause ist schließlich nur entspanntes Frischluftschnappen bzw. Kopieren unser Hobby. Raumwechsel, Material oder Klassenraum aufräumen, Kindern beim Anziehen helfen, Wundversorgung, Schlichten bei Streitigkeiten, Abstimmung mit Kollegen und Hort... ist doch alles nix."

Während Nilux diese und andere Reaktionen mit "Da hat wohl jemand in ein Wespennest gestochen" kommentierte, bezeichnete Erzgebirger den Vorschlag als Behandlung von Symptomen anstatt "das marode und völlig aus der Zeit gefallene Bildungssystem in Deutschland einer wissenschaftlichen (!) Untersuchung zu unterziehen". Autor Merten kam auch persönlich nicht ungeschoren davon - nach Dirlams Kritik, dass Merten im Amt an der Situation auch nichts geändert habe, ätzte Jossa: "Herr Professor, gehen Sie mit gutem Beispiel voran und machen Sie aus 9 Semesterwochenstunden Lehre 25 wie die Lehrkräfte in den Schulen!"

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MDR (dr)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 06. Februar 2023 | 18:15 Uhr

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