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In Zakopane stehen die Menschen Schlange, um ins Restaurant Góraleczka zu kommen, das trotz Verbot geöffnet ist. Bildrechte: MDR/Restaurant Góraleczka

Corona-PandemiePolen: Klagewelle gegen den Lockdown

12. Februar 2021, 16:48 Uhr

Viele polnische Unternehmer halten die staatlichen Pandemie-Beschränkungen für unzulässig und wollen juristisch dagegen vorgehen. In Hunderten Fällen wird der Staat auf Schadensersatz für die finanziellen Verluste verklagt. Kritiker werfen der Regierung vor, Schadenersatz-Ansprüche gezielt zu umgehen.

von Monika Sieradzka, Warschau

Eine Schlittschuhbahn, die zum Blumenladen umgewandelt wird. Eine Gaststätte, die ihre Kunden als Wein-Tester einstellt. Oder ein Hotel, in dem jeder Gast als Teilnehmer eines Schachturniers angemeldet wird, weil er nur als solcher darin übernachten darf. Der Ideenreichtum, wie die Corona-Beschränkungen umgangen werden können, kennt in Polen offenbar keine Grenzen. Die ausgefallendsten Tricks machen schnell Schlagzeilen und sehen aus wie smarte Werbekampagnen. Doch dahinter steht keine PR-Strategie, sondern ein erbitterter Kampf ums wirtschaftliche Überleben.

Fitnessbranche im Überlebenskampf

Seit dem 28. Dezember 2020 befindet sich Polen im dritten Lockdown. Zwar gab es seit dem 1. Februar zwei Lockerungen, die zunächst Einkaufszentren und Museen und später Hotels, Kinos und Theatern einen stark eingeschränkten Betrieb unter strengen Hygieneauflagen erlaubten, dennoch treffen die Beschränkungen vor allem kleine Unternehmen aus der Gastronomie, Hotelerie sowie aus der Fitnessbranche hart. Verzweifelt und ohne Rücksicht auf Geldstrafen, die bis zu 6600 Euro betragen können und sofort bezahlt werden müssen, schließen sich immer mehr von ihnen der Aktion #WirMachenAuf (#OtwieraMY) an.

In der Warschauer Kneipe PiwPaw wird gefeiert als ob es kein Corona gäbe. Offiziell muss die Gastronomie in Polen wegen Kontaktbeschränkungen nach wie vor geschlossen bleiben. Bildrechte: MDR/Monika Sieradzka

So konnte man noch vor kurzem nur als Leistungssportler oder Mitglied eines Sportvereins in Fitnessstudios trainieren. Inzwischen haben rund 1.600 von insgesamt 2.700 Studios eigenmächtig entschieden, für alle zu öffnen. Die Gründe erklärt Tomasz Napiórkowski, Chef des Polnischen Fitness-Dachverbands:  "Beim ersten Lockdown im Frühjahr hat die Branche auf eigene Reserven zurückgegriffen, aber schon beim zweiten Lockdown im Herbst wurde es schwierig, wir hatten Verluste von insgesamt 500 Millionen Euro, die uns niemand kompensieren will. Und jetzt ist die Lage schon ganz dramatisch."

Gerichte gegen den Lockdown

Von den Corona-Rettungspaketen bekommen Einzelunternehmer, zu denen auch die meisten Betreiber von Fitnessstudios gehören, nur einen Bruchteil. Fast keiner von ihnen erfüllt die formalen Kriterien für die Staatshilfen, die eher für Unternehmen mit vielen Angestellten gedacht sind. Die Regelungen nennt Napiórkowski "löchrig" und die Kriterien "unrealistisch". Die Branche will nun mit einer Sammelklage vor Gericht ziehen und Schadensersatz für die aus ihrer Sicht rechtswidrige Schließung der Sportstätten und Fitnessclubs verlangen.

Tomasz Napiórkowski, Chef des Polnischen Fitness-Dachverbands, nennt die Kriterien, um unter den staatlichen Corona-Rettungsschirm zu kommen "unrealistisch". Bildrechte: Tomasz Napiórkowski

In ihren Bemühungen fühlen sich die Unternehmer durch einige polnische Verwaltungsgerichte gestärkt, die schon in über 50 Fällen den Lockdown für rechtswidrig erklärt haben. Im Fall eines Friseurs, der im Frühjahrslockdown einen Kunden empfangen hatte, wurde zum Beispiel die Geldstrafe von 2.400 Euro zurückgenommen. Das Verwaltungsgericht in Oppeln argumentierte, dass die Schließung der Wirtschaft eine wesentliche Einschränkung der Bürgerrechte und damit - der polnischen Verfassung nach - nur in einem Ausnahmezustand, wie etwa in einem Katastrophenfall erlaubt sei. Einen solchen hat die polnische Regierung jedoch nie verkündet.

Will die Regierung nicht zahlen?

Denn hätte sie es getan, dann hätte sie auch die Verluste der Wirtschaft automatisch ausgleichen müssen. Da aber kein Ausnahmezustand ausgerufen wurde, können Unternehmen einen möglichen Schadensersatz nur auf dem Gerichtsweg fordern. Doch die Unsicherheit des Ausgangs, die hohen Gerichtskosten und die lange Prozessdauer schrecken viele Firmen von einem solchen Schritt ab. Ein Lockdown ohne verkündeten Ausnahmezustand kommt den polnischen Staat also wesentlich billiger zu stehen.

Darüber hinaus wurden die meisten Beschränkungen per Verordnung und nicht per Gesetz eingeführt, was die Gerichte ebenfalls problematisch finden. "Mit den Verordnungen kann die Regierung das Parlament umgehen. Sie sind deswegen bequem, weil man sie schnell verkünden kann", erklärt Eliza Rutynowska vom liberalen Thinktank FOR in Warschau. "Doch wenn Verordnungen Gesetze ersetzen, ist es gefährlich und vollkommen unzulässig in einem Rechtsstaat", sagt sie.

Auch die Einkaufszentren, die in Polen seit dem 1. Februar unter strengen Hygieneauflagen wieder öffnen dürfen, planen Klagen gegen den Staat wegen des verhängten Lockdowns. Bildrechte: IMAGO / Eastnews

Derweil hat Premierminister Mateusz Morawiecki in einer Anfrage an das Verfassungsgericht die bestehenden Schadensersatzvorschriften angezweifelt. Noch steht die Verhandlung der Anfrage nicht im Terminplan des Gerichts. Doch alleine die Tatsache, dass der Regierungschef geltende Vorschriften in Frage stellt, würde für die meisten Gerichte einen "Einfriereffekt" haben, meint Eliza Rutynowska. Die "mutigen" Gerichte würden sich auf die geltenden Schadensersatzregelungen berufen, den Lockdown für ungültig erklären und zugunsten der Firmen entscheiden. "Doch andere Gerichte werden die Prozesse einstellen, bis das Verfassungsgericht entscheidet. Und das kann sich jahrelang hinziehen", so die Expertin.

Solidarität mit den Protestlern

Die Fitnessbranche, die gerade ihre Sammelklage vorbereitet, ist damit nicht die einzige. Dasselbe haben auch schon Hunderte Hotelbesitzer gemacht, eine weitere Klage soll demnächst von den Restaurantbesitzern kommen. Auch die großen Einkaufszentren, die im Jahr 2020 mit einem Gewinneinbruch um 45 Prozent rechnen, wollen diesen Weg gehen. Neben den Sammelklagen stapeln sich in den ohnehin schon überlasteten Gerichten inzwischen auch individuelle Klagen.

Zwar können solche Kläger nicht mehr auf staatliche Corona-Hilfen zählen. Doch für viele sind diese sowieso zu klein oder gänzlich unerreichbar. Dafür können sich die Protestkläger der gesellschaftlichen Solidarität sicher sein. Sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, ist den Polen aufgrund ihrer Geschichte sehr vertraut. Laut einer Umfrage der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza werden die widerspenstigen Geschäftsleute von zwei Dritteln der Polen unterstützt.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 23. Januar 2021 | 06:00 Uhr

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