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Eine Frau zeigt ihre Unterstützung für Ramsan Kadyrow. Doch viele Frauen leiden unter den restiktiven Geschlechterrollen in Tschetschenien - und fliehen. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Russische TeilrepublikGewalt in Tschetschenien: Der Kreml schaut zu

07. Mai 2024, 19:19 Uhr

Tschetschenien ist ein Teil Russlands, hier sollten auch die Gesetze der Russischen Föderation gelten. Doch tatsächlich tun sie das nur bedingt. In der muslimisch geprägten Teilrepublik darf etwa der Sohn des Republikchefs einen wehrlosen Angeklagten vor laufender Kamera verprügeln. Hier sind Frauen, die nicht zwangsverheiratet werden wollen, tödlicher Gewalt ausgesetzt. Der Kreml will nicht hinschauen, die russischen Behörden machen sich oft mitschuldig.

von Tina Akumowa, Moskau

"Ich will nicht", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow etwas bockig auf die Bitte der Journalisten, den Angriff auf Nikita Schurawel zu kommentieren. Der 19-Jährige, der 2023 in Wolgograd einen Koran verbrannte, sitzt in Tschetschenien im Gefängnis und wurde in der Untersuchungshaft vom Sohn des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow zusammengeschlagen. Der Fall löste im Rest des Landes empörte Reaktionen aus. Peskows Weigerung, ihn zu kommentieren, spiegelt aber die Haltung Moskaus gegenüber Tschetschenien wider – wegschauen, verschweigen. Auch zum Fall der entführten Seda Sulejmanowa, über die aktuell in den Medien und Foren viel spekuliert wird, verlor das offizielle Moskau kein Wort.

Wo ist Seda?

Die 26-jährige Tschetschenin wird seit August 2023 vermisst. Seda floh 2022 aus ihrem Elternhaus in Grosny, um einer Zwangsheirat zu entkommen. Mit Unterstützung von Menschenrechtlern kam sie nach St. Petersburg, fand dort einen Job und zog später auch mit ihrem Freund zusammen. Einen Monat später wurde sie jedoch von ihren tschetschenischen Verwandten aufgespürt.

Im August 2023 nahm die St. Petersburger Polizei Sulejmanowa fest – die 26-Jährige soll Schmuckstücke ihrer Mutter im Wert von 150.000 Rubel (umgerechnet etwa 1.500 Euro) entwendet haben. Sie wurde nach Tschetschenien zurückgebracht, seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Im April begann das tschetschenische Ermittlungskomitee (Das ist eine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Institution, die direkt dem Präsidenten unterstellt ist, und eigenständig Ermittlungen aufnehmen kann – d. Red.) eine Untersuchung wegen des mutmaßlichen Mordes an Seda, nachdem die Menschenrechtsgruppe "Krisengruppe SK SOS" Anzeige erstattet hatte.   

Schlug einen Häftling zusammen: Adam Kadyrow, der 15-jährige Sohn des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Das Strafverfahren gegen Seda wegen Diebstahls sei zweifelsfrei fingiert, glaubt der heute im Exil lebende tschetschenische Menschenrechtler Abubakar Jangulbajew, der früher als Anwalt bei der Menschenrechtsorganisation "Komitee gegen Folter" tätig war. Dies sei eine bewährte Masche – gerade bei Frauen, die aus Tschetschenien fliehen: "Wenn Gründe fehlen, ein Strafverfahren gegen jemanden einzuleiten, der zurück nach Tschetschenien gebracht werden soll, werden solche Vorwürfe erfunden, so Jangulbajew.

Meist sind es die Verwandten, die wegen fingierter Taten Anzeige erstatten, um geflüchtete Familienmitglieder wieder unter Kontrolle zu bringen. Die russischen Behörden sind hier nur ausführendes Organ: Wenn sie die Gesuchten fassen, übergeben sie diese den tschetschenischen Behörden ohne selbst zu prüfen, ob an den Vorwürfen gegen sie etwas dran ist.

Eine besondere Republik

Inzwischen sind Spekulationen laut geworden, dass Seda Opfer eines sogenannten "Ehren"-Mordes geworden sei. Im Internet findet man dazu zahlreiche, meist wütende Kommentare russischer Nutzer. Die Zustände in der nordkaukasischen Republik bezeichnen viele als "barbarisch". "Pures Mittelalter", schrieb etwa die Nutzerin Larissa S. auf der Nachrichtenplattform Yandex Dzen. "Frauenrechte werden dort mit Füßen getreten und der Staat unternimmt nichts. Schande!", lautet ein weiterer Kommentar. Andere Kommentare suggerieren, dass die Polizei korrupt sei.

Besonders unter jungen Russen ist die Meinung verbreitet, Tschetschenien sei zwar offiziell Russland, lebe aber nach ganz anderen Regeln. Ein eigener Staat innerhalb eines größeren Staates. Viele blicken mit gewisser Angst und Misstrauen auf die Teilrepublik.

Tschetschenische Frauen - hier mit Blumen zum Weltfrauentag - leiden oft unter patriarchaler Gewalt. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Die Entführung von Seda ist bereits der zweite derartige Fall innerhalb kurzer Zeit. Im März 2023 war die 19-jährige Selima Ismailowa vor ihrem gewalttätigen Vater aus Tschetschien geflohen. Im Juni versuchte die 19-Jährige nach Deutschland weiterzureisen. An einem Moskauer Flughafen wurde sie jedoch festgenommen. Der Vorwurf war nahezu derselbe wie bei Seda: die junge Frau soll von ihren Verwandten Geld gestohlen haben. Die 19-Jährige wurde zurück nach Grosny gebracht. Seitdem ist nur wenig über sie bekannt.

Die tschetschenische Führung sei in solchen Situationen nicht nur untätig, sondern begrüße das Ganze – wenn auch inoffiziell, betont Menschenrechtsaktivist Jangulbajew. Tschetschenische Politiker erlaubten sich manchmal – in einem scheinbar scherzhaften Ton – Drohungen gegen Andersdenkende. "Nach dem Motto: ,Wir holen euch und werfen euch in den Keller‘", so der Anwalt.

Zwei, die sich verstehen: Russlands Präsident Wladimir Putin und der Chef der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow. Bildrechte: picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin/AP | Mikhail Metzel

Diese Skrupellosigkeit kennt Jangulbajew nur zu gut: Seine Mutter Sarema Musajewa wurde im Sommer 2023 zu fünfeinhalb Jahren Haft wegen angeblichen Betrugs verurteilt. Zuvor wurde sie von bewaffneten maskierten Männern aus ihrem Haus in Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau, entführt und nach Tschetschenien gebracht. Der Aktivist führt die Verfolgung seiner Mutter auf sein Engagement zurück und behauptet, die Betrugsvorwürfe gegen sie seien frei erfunden.

Moskau schweigt

Der Kreml kommentiere die Zustände in Tschetschenien nur ungern, so der Menschenrechtler. "Es sei denn, es geht um die Erweiterung der tschetschenischen Autonomie." An allem anderen habe Moskau wenig Interesse. "Wenn es um Tschetschenien geht, bedient sich Kremlsprecher Peskow seiner Lieblingsfloskel: Kaukasus halt, so ist es dort üblich." Damit werde jegliche Gewalt gegen Menschen verharmlost und als "Kadyrows Launen" abgetan.

Auch im Fall Nikita Schurawel fiel Moskaus Kritik verhalten aus. Der 19-Jährige hatte in seiner Heimatstadt Wolgograd in der Nähe einer Moschee den Koran verbrannt und das Ganze gefilmt. Kurz darauf wurde er verhaftet und ein Präzedenzfall geschaffen: Das Gerichtsverfahren gegen Schurawel fand nicht in Wolgograd, sondern in Grosny statt. "Aufgrund zahlreicher Bitten tschetschenischer Bürger", begründete damals das russische Ermittlungskomitee seine Entscheidung. "Juristisch ist das unmöglich. Die Tat wurde in Wolgograd begangen, dort hätte auch die Gerichtsverhandlung stattfinden sollen", betont Jangulbajew. Die Entscheidung, Schurawel nach Grosny zu überführen, sieht der Menschenrechtler als Teil einer PR-Kampagne für Kadyrow an, der sich als "Hüter des Koran" inszeniere.

Nach Tschetschenien ausgeliefert: Nikita Schurawel bei seiner Gerichtsverhandlung in Grosny. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Im September veröffentlichte Kadyrow in seinem offiziellen Telegramkanal ein Video, auf dem sein fünfzehnjähriger Sohn Adam Schurawel in der Untersuchungshaft brutal schlägt. Der Republikchef betonte, er sei stolz auf seinen Sohn. Später wurde Adam sogar der Heldenorden der Republik verliehen.

Das ging selbst regierungstreuen Politikern und Journalisten in Moskau zu weit. Russlands Ombudsfrau Tatjana Moskalkowa kritisierte, jeder Angeklagte müsse sich nach dem Gesetz vor dem Gericht verantworten, die Bedingungen in der Untersuchungshaft müssten den gesetzlichen Vorschriften Russlands entsprechen. Keine Beleidigung der Religion rechtfertige einen Gesetzesbruch, mahnte wiederum Marina Achmedowa, Mitglied des russischen Menschenrechtsrates. Selbst der regierungstreue TV-Moderator und Duma-Abgeordnete Jewgeni Popow fand kritische Worte: "Menschen darf man nicht verprügeln. Das ist illegal. Die Strafe für den Täter wird nur vom Gericht bestimmt."

Das Phänomen Kadyrow

Der russische Politikforscher Alexej Malaschenko sprach 2019 von einem "Kadyrowschen Phänomen". Der tschetschenische Republikchef habe seinerzeit einen Freibrief vom Kreml für Handlungen erhalten, die keinem anderen Regionalpolitiker in Russland erlaubt seien, schrieb Malaschenko in der Zeitung Wedomosti. Der Forscher führt das vor allem auf zwei blutige Kriege zurück, in denen tschetschenische Rebellen ihre Unabhängigkeit von Russland erlangen wollten. Unter Ramsan Kadyrow, der im Jahr 2007 Präsident der Republik wurde, habe sich das besondere Verhältnis zwischen Moskau und Grosny herausgebildet. Kadyrow wurde, so der Forscher, das Recht eingeräumt, in der Republik nach eigenem Ermessen zu handeln. Selbst in Fragen der Außenpolitik habe sich Kadyrow Aussagen erlaubt, die der offiziellen Position Moskaus widersprachen.

Im Gegenzug für die unerhörte Freiheit, die Moskau dem tschetschenischen Republikchef gewährt, sei dieser Putin gegenüber absolut loyal. Kadyrow bezeichnet sich selbst als Putins Soldat. "Der ganze Machtapparat in Tschetschenien ist komplett auf Kadyrow ausgerichtet", betont Jangulbajew. Der Kreml lasse sich die Ausfälle des Tschetschenien-Chefs gefallen, weil er ihn als "Schlüssel zu ganz Kaukasus" und als Garant dafür sehe, dass Tschetschenien Teil Russlands bleibt. "Solange es keinen Krieg im Nordkaukasus gibt, kommt Kadyrow mit vielen Sachen durch", resümiert Jangulbajew. 

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