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Ukrainische Flüchtlinge haben es nicht leicht in Ungarn, auch wenn diese fröhlichen Kindergesichter etwas anderes nahelegen. Bildrechte: IMAGO/EST&OST

KriegsfolgenUngarn: Wohin sind die ukrainischen Flüchtlinge verschwunden?

26. Januar 2023, 07:08 Uhr

Eigentlich müsste Ungarn deutlich mehr ukrainische Flüchtlinge haben als die Statistik ausweist. Seit Kriegsbeginn wurden dort nur knapp 34.000 Ukrainer offiziell als Flüchtlinge registriert. Es ist ein Bruchteil der Zahlen, die andere Länder vergleichbarer Größe vorweisen – und das, obwohl Ungarn direkt an die Ukraine grenzt. Die Gründe dafür sind komplex. Die wichtigsten davon: Orbáns Politik und fehlende Information.

Gemessen an seiner Größe und angesichts seiner geografischen Lage müsste Ungarn in seinen Statistiken eigentlich deutlich mehr fluchtsuchende Ukrainer aufweisen. In allen Ländern der Region ist die Zahl der Kriegsflüchtlinge eindeutig höher. Tschechien, das nach Fläche und Einwohnerzahl mit Ungarn vergleichbar ist, hat fast eine halbe Million Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen, obwohl es nicht an sie grenzt. Die Slowakei und Rumänien haben jeweils mehr als 107.000 aufgenommen.

Nur ungefähr ein Prozent der nach Ungarn eingereisten Ukrainer haben im Land einen Asylantrag gestellt, berichtet Zsolt Szekeres vom Asylprogramm des Ungarischen Helsinki-Komitees. Offenbar seien viele weitergereist, vermutet der Jurist.

Ukrainer misstrauen Viktor Orbán

Nur ein Bruchteil der Ukrainer, die seit Kriegsbeginn nach Ungarn eingereist sind, wurden im Land als Flüchtlinge registiert. Viele beantragen statt Asyl ein Arbeitsvisum – sind damit aber schlechter gestellt und tauchen in der Flüchtlingsstatistik nicht auf. Bildrechte: IMAGO/EST&OST

Die Gründe für dieses zahlenmäßige Missverhältnis sind vielfältig. So weckt beispielweise die Politik des ungarischen Premierministers Viktor Orbán, der selbst angesichts eines Angriffskrieges keine klare Kante gegen Russland zeigt, Zweifel an der Haltung Ungarns zum Ukraine-Krieg. Das belegt eine Umfrage des Think-Tanks "Zentrum für ein Neues Europa" in Kiew. Dabei wurden Ukrainer gefragt, wie viel Vertrauen sie in führende Politiker aus dem Ausland haben.

Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko führten das Negativranking an – mit entsprechend 97 Prozent und 94 Prozent Misstrauensbekundungen. Auf Platz vier landete aber, nach dem Chinesen Xi Jinping (73 Prozent), Viktor Orbán, dem 69 Prozent der Befragten misstrauten.

Angesichts dieser Zahlen ist es kaum verwunderlich, dass Ukrainer lieber in einem anderen Land Zuflucht suchen. Außerdem verweist Szekeres darauf, dass ein Teil der Flüchtlinge der ungarischen Minderheit in der Ukraine angehört und deshalb neben der ukrainischen auch die ungarische Staatsbürgerschaft besitzt. Diese Menschen brauchen keine Aufenthaltserlaubnis und tauchen in der Flüchtlingsstatistik nicht auf.

Arbeitsvisum statt Asylantrag

Das allein reicht aber Szekeres zufolge als Erklärung nicht aus. Viele Geflüchtete tauchen in der ungarischen Flüchtlingsstatistik offenbar auch deshalb nicht auf, weil sie den falschen Aufenthaltstitel beantragen – statt des Flüchtlingsstatus ein gewöhnliches Arbeitsvisum. Grund dafür ist dem Juristen zufolge fehlende Information. Dabei ist der "vorübergehende Schutz", wie der Flüchtlingsstatus juristisch offiziell heißt, einfacher zu beantragen und schließt bereits eine Arbeitserlaubnis ohne Einschränkungen ein.

Was ist ein "vorübergehender Schutz" für ukrainische Flüchtlinge?

Beim "vorübergehenden Schutz" handelt es sich nicht um einen allgemeinen Flüchtlingsstatus, sondern um einen Sonderstatus, den der EU-Rat im Rahmen eines Notfallmechanismus nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eingerichtet hat. Der vorübergehende Schutz war zunächst für ein Jahr gültig und wurde am Jahresende um ein weiteres Jahr verlängert. Der Status wird in allen Mitgliedstaaten der EU vergeben – jedoch wird er in Ungarn deutlich seltener als in anderen EU-Ländern in Anspruch genommen.

Trotzdem ziehen viele Arbeitgeber, die geflüchtete Ukrainer beschäftigen wollen, das gewöhnliche Arbeitsvisum vor, obwohl es mit mehr Formalitäten verbunden ist, beobachtet Szekeres: "Wahrscheinlich tun sie das aus Gewohnheit und vielleicht wissen sie gar nicht, dass es den Schutzstatus gibt."

Bei ihrer Arbeit vor Ort stellten Helfer vom Ungarischen Helsinki-Komitee fest, dass die geflüchteten Ukrainer nur mit Mühe an Informationen kommen, die sie über ihre Rechte aufklären und in denen erklärt wird, wie sie den Schutzstatus erlangen können. "Wenn sie nicht wissen, was sie verlangen können, werden sie es auch nicht verlangen", so Szekeres.

Nachteile für Flüchtlinge

Solidarität mit der Ukraine. Der ungarische Staat tut in Sachen Flüchtlingshilfe nur das Nötigste. Ohne Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen wäre die Lage deutlich schlechter. Bildrechte: IMAGO/EST&OST

Für die geflüchteten Ukrainer hat die Sache einen entscheidenden Nachteil: Wer ein gewöhnliches Arbeitsvisum besitzt und gekündigt wird, muss innerhalb kürzester Zeit eine neue Stelle finden, sonst verliert er seine Aufenthaltserlaubnis. Auch wer arbeitsunfähig wird, etwa aufgrund einer längeren Krankheit, verliert sein Aufenthaltsrecht. Einem anerkannten Flüchtling droht das dagegen nicht.

Eigentlich müssten solche Ukrainer Ungarn dann wieder verlassen. In der Praxis können sie dazu aber nicht gezwungen und auch nicht zurück in die Ukraine abgeschoben werden – dies wäre völkerrechtswidrig, solange dort Krieg herrscht. Aber: Sobald ihr Arbeitsvisum ungültig geworden ist, werden sie nur noch "geduldet" und bekommen laut Szekeres nur ein stark eingeschränktes Aufenthaltsrecht ohne Arbeitserlaubnis.

Ungarischer Staat bleibt untätig

Der ungarische Staat macht nach seiner Selbstdarstellung alles korrekt in Sachen Flüchtlingshilfe. Doch offenkundig fehlen den geflüchteten Ukrainern grundlegende Informationen zu ihren Rechten, wenn sie sich als gewöhnliche Arbeitsmigranten und nicht als Kriegsflüchtlinge registrieren lassen. Darauf machen Nichtregierungsorganisationen wie das Helsinki Komitee aufmerksam, die bei ihrer täglichen Arbeit mit den Betroffenen auf das Problem gestoßen sind. Sie versuchen, mit einer Rechtsberatung Abhilfe zu schaffen – vermissen aber eine Systemlösung.

Zsolt Szekeres wünscht sich eine transparente, gut koordinierte Informationskampagne der Regierung, um sowohl Flüchtlinge als auch Arbeitgeber auf den Schutzstatus aufmerksam zu machen. Denn schließlich ist dieser für alle vorteilhaft – Arbeitgeber, geflüchtete Ukrainer und auch Behörden, die weniger "Papierkram" erledigen müssen.

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Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | MDR AKTUELL | 07. Dezember 2022 | 17:05 Uhr