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Daniel Martin und Marion Waldhauer entdecken gemeinsam Lieblingsorte und neue Hörerlebnisse in Sachsen. Mithilfe des binauralen Mikrofons "Öhrchen" nehmen sie Hörerinnen und Hörer mit auf die Expedition. Bildrechte: MDR/Amac Garbe

Podcast - Folge 1Mit dem "Öhrchen" auf ungewöhnlicher Klangreise

08. Oktober 2022, 08:00 Uhr

Jedes Abenteuer beginnt mit dem Schritt vor die Tür. Etwas Neues zu wagen, sich auf Unbekanntes einzulassen oder einfach mal all das, was man meint zu wissen, hinter sich zu lassen, ist aufregend. Podcasterin Marion Waldhauer ist sehr aufgeregt. Gemeinsam mit einem speziellen Mikrofon, das die Geräusche dieser Welt um sich herum räumlich aufzeichnet, begleitet sie den sehbehinderten Daniel Martin - und lernt ihre Umgebung nochmal ganz neu kennen. Über ein erstes Treffen, Fettnäpfchen und viele Fragen.

Der Bahnsteig ist bereits gut gefüllt. Gleich wird die Regionalbahn aus Richtung Hof in den Hauptbahnhof Dresden einfahren. Ich habe zwar schon viel mit Daniel telefoniert, aber das ist unser erstes Treffen. Wie wird es sein, mit einem Blinden durch eine Stadt zu laufen? Wie viele Fettnäpfchen werde ich auslassen? Eigentlich weiß ich gar nichts. Ich habe noch nie zuvor jemanden getroffen, der in irgendeiner Art eingeschränkt ist. Wobei "eingeschränkt sein" ja auch nicht stimmt. Es ist ja nur die Umwelt, die einschränkt. Gut, dass meine Gedanken noch nicht laut an einem Gespräch teilnehmen. Es ist schon schwierig, wenn man nichts falsch machen möchte!

Als Daniel ankommt, bahnt sich sein Stock im Gewusel von Menschen den Weg. Ich spreche ihn an, doch er nimmt mich nicht wahr. Es ist alles zu viel und zu laut. Ihn zu berühren, traue ich mich nicht. Ich will ihn nicht erschrecken. Ich spreche ihn nochmal lauter an und dann klappt es: Zwischen all den Wolken aus Sprachfetzen biete ich ihm meinen Arm an und wir entfliehen gemeinsam dem Trubel des Hauptbahnhofes.

Das Mikrofon hat Ohren!

Mit ihm neben mir zu schwatzen, ist genauso herrlich unterhaltsam wie bereits bei unseren Telefonaten.

Vom Hauptbahnhof geht es für uns in die Altstadt. Vor der Frauenkirche angelangt, suche ich uns eine Bank. Denn ich muss noch all die Technik aus meinem Rucksack basteln und startklar machen. Als ich das Mikrofon auspacke, muss Daniel lachen, denn links und rechts sind tatsächlich Ohren angebracht! Sofort ist der Spitzname für das Mikrofon gefunden: Unser "Öhrchen".

Ich erkläre Daniel, dass man den räumlichen Klang unserer Aufnahmen nur mit Kopfhörern richtig genießen kann. Die Uhr verrät mir, dass gleich ein paar Glocken zu hören sein müssten. Jetzt schnell! Ich baue ich das "Öhrchen" fertig auf und gebe Daniel meine Kopfhörer.

Rollkoffer, Reisen und Redebedarf

Wir lauschen dem Getümmel auf dem Platz vor uns: Rollkoffer von Passanten hüpfen über das Pflaster. Daniels Stock klang vorhin ein bisschen ähnlich. Bei dem Gedanken springt mir eine Frage auf die Zunge: Wie reisen eigentlich Blinde? Daniel erzählt mir, dass es für Blinde einen ganz besonderen Ort in Sachsen gibt: Die Villa Rochsburg. Dort könne man Ferien machen, Ausflüge starten und auch Kurse belegen. Die Villa als Aura-Pension sei ganz genau auf die Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen ausgerichtet.

Aura-Pension Villa Rochsburg

Die Pension ist eine Einrichtung des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Sachsen e.V.
Blinde und sehbehinderte Menschen finden dort Angebote, die speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind.
Angebote solcher Begegnungs- und Weiterbildungsstätten gibt es bundesweit von unterschiedlichen Trägern.

Aurapension Villa Rochsburg

Im Außenbereich steht ein kleines Modell der Villa, das natürlich gerne angefasst werden darf. So können Besucherinnen und Besucher einen haptischen Eindruck davon bekommen, wie die Villa von außen aussieht. Bildrechte: MDR/Konstantin Henß
Die Jugenstilvilla Rochsburg von außen. Bildrechte: Villa Rochsburg / Michaela Mehlhorn
Treppe zum Hof Bildrechte: Villa Rochsburg / Michaela Mehlhorn
Der Speisesaal. Bildrechte: Villa Rochsburg / Michaela Mehlhorn
Eine Übernachtungsmöglichkeit. Bildrechte: Villa Rochsburg / Michaela Mehlhorn

Fettnäpfchen, ich komme!

Wir verlassen unsere Bank und starten unsere Entdeckungstour durch die Innenstadt. Ich löchere Daniel mit Fragen: Wie hört ein Blinder? Was sollte ich beim Laufen alles ansagen? Und während ich das frage, sage ich peinlich genau jeden Stock und Stein an. Mir fällt selbst auf, dass das irgendwie komisch ist. Daniel beruhigt mich: Wenn er den Weg nicht allein finden würde, wäre er ja nicht den ganzen Weg von Reichenbach bis nach Dresden gekommen. Guter Punkt.

Ich erzähle ihm, dass wir uns gleich gemeinsam den Zwinger ansehen werden. Oh, da ist das Fettnäpfchen. Doch Daniel reagiert ganz anders als erwartet: "Es ist Umgang und ich bin kein Freund davon, wenn man extra neue Worte erfindet, nur weil ich jetzt eine Sehbehinderung habe oder man blind ist. Wir sagen ja genauso 'auf Wiedersehen', 'man sieht sich'. Ganz normaler Umgang eigentlich. Ganz normale Floskeln."

Ich bin kein Freund davon, wenn man extra neue Worte erfindet nur, weil ich jetzt eine Sehbehinderung habe oder man blind ist.

Daniel Martin

Das ist jetzt ein großer Stein, der aufs Kopfsteinpflaster purzelt. Ich habe mir eindeutig viel zu viele Barrieren selbst in den Kopf gezimmert.

"Pflichtprogramm" für Besucher in Dresden

Auf geht es zu der angesprochenen Altstadt-Touri-Tour, die ich jedem antue, der mich das erste Mal in Dresden besucht. Erster Menüpunkt auf der Reiseliste ist das "Schmuckkästchen". Zumindest nenne ich den Teil der Altstadt so, wo sich Zwinger, Semperoper und Hofkirche aneinanderschmiegen. Ich bin gespannt, wieviel mehr oder anders Daniel die Szenerie im Zwinger wahrnehmen wird. Ich lotse ihn direkt zum Glockenspiel aus Porzellan.

Auf die Frage, was er alles wahrnimmt, antwortet er genau mit den Dingen, die ich ebenfalls höre. Gut, vielleicht ein Zufall. Geben wir der Sache eine zweite Chance. Ich führe ihn auf den Platz vor der Semperoper. Wieder lauschen wir gemeinsam. Wieder ist das Ergebnis sehr ähnlich. Wahrscheinlich sind aber auch sehr volle und von Verkehrslärm geprägte Orte nicht unbedingt eine tolle Idee, um zu vergleichen, was man hört und was einem gar nicht auffällt.

Fragen über Fragen

Ich hake Daniel unter und entführe ihn zum Elbufer. Am Japanischen Palais lassen wir uns auf einer der steinernen Bänke nieder. Hier ist es etwas stiller, aber dafür windiger. Mir wird immer klarer, dass Daniel als sehbehinderter Mensch gar nicht so anders hört als ich.

Ich habe so viele Fragen im Kopf! Sie reichen von praktisch über banal bis hin zu "eigentlich eher lustig". Zum Beispiel frage ich mich etwas, das fast nach dem Beginn eines schlechten Witzes klingt: "Treffen sich zwei Blinde ..." Aber wie eigentlich? Heute habe ich die Möglichkeit zum Fragen.

Wie ist das mit den Blinden und den Farben? Daniel erzählt, dass es sehr davon abhängt, ob eine Person blind zur Welt gekommen ist oder schon einmal sehen konnte. Farben sind für Geburtsblinde mehr als ein Wort: Sie verbinden es mit ganz anderen Eindrücken, wie beispielsweise Geruch und Geräusch. Herbstlaub zum Beispiel ist braun, raschelt und riecht ganz spezifisch.

Kleine Helfer für den Alltag

Für blinde Menschen gibt es außerdem sehr hilfreiche kleine Geräte für den Alltag - sie helfen beispielsweise bei der Auswahl der Kleidung. Wie das funktioniert, will Daniel demonstrieren. Er greift in seine Umhängetasche und holt einen kleinen schwarzen Kasten hervor.

Daniel hält das Kästchen vor seine gelbe Armbinde mit den drei schwarzen Punkten. Eine elektronische Stimme sagt erst "blasses Mittelgelb" und anschließend "Schwarz". Dann zeigt er mir noch einen anderen Modus: Erst hält er den Kasten Richtung Himmel. Wir hören einen etwas schrillen, hohen Ton. Dann hält er die Hand vor den Sensor und der Ton wandelt sich sofort zu einem tieferen. Ah! So kann man nicht nur feststellen, wie hell oder dunkel ein Gegenstand ist, sondern auch herausfinden, ob Tag oder Nacht ist!

Dieses Hilfsmittel hat gleich mehrere Funktionen: Es vermittelt zum einen durch einen höheren oder tiefern Ton, ob das gescannte Objekt hell oder dunkel ist. Außerdem sagt es Farben an, die es erkennt. Bildrechte: MDR/Amac Garbe

Daniel ist bei jeder meiner Fragen geduldig und antwortet ausführlich. Es macht mir Spaß, ihn zu löchern. Wie ist das eigentlich, wenn Fremde immer wieder ihre Hilfe anbieten? So richtig vorstellen kann ich mir das nicht.

Nachdem wir noch eine Weile am Elbufer die Sonne genossen haben, packen wir das "Öhrchen" ein wollen Dresden weiter erkunden. Nach all dem Gewusel der vielen Leute, der Autos und der Fahrräder sehnen wir uns allerdings nach ein bisschen Ruhe.

Liebling sucht Ort

Wir machen einen kleinen Abstecher zum Landesfunkhaus Sachsen. Dort zeige ich Daniel, wo ich sonst so meine Zeit mit den vielen Stunden Videomaterial verbringe. Richtig ruhig und idyllisch wird es dann aber in dem kleinen Park auf der Hinterseite des Gebäudes. Hier schwatzen wir unter Bäumen weiter und sind uns schnell einig: Es wäre eine gute Idee, die Lieblingsorte von Leuten aufzusuchen, die in keinem Reiseführer stehen. Ein kleiner Regenschauer lässt uns die Köpfe unter Daniels Schirm zusammenstecken. Während es über uns prasselt, überlegen wir: Wer könnte unser erster Lieblingsortspender werden? Ein Kandidat ist schnell gefunden - doch dazu das nächste Mal mehr.

Und nun sind Sie dran!

Der Tag mit Daniel ist für mich noch lange nicht vorbei. Viele Fragen fallen mir noch ein, aber wir wollen auch Ihnen die Möglichkeit geben, Daniel selbst etwas zu fragen. Was er darauf antwortet, sehen Sie demnächst auf Instagram live. Anschließend ist das Interview auch hier auf unserer Website verfügbar. Bis es soweit ist, hören Sie doch in unseren Podcast rein - mit Kopfhörern natürlich.

MDR (maw)

Das Abenteuer in Dresden geht weiter

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Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 11. Oktober 2022 | 19:00 Uhr