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Interview mit KonfliktforscherWarum Nation Building in Afghanistan gescheitert ist

20. August 2021, 17:00 Uhr

Mit dem Sieg der Taliban endet der Versuch einer Stabilisierung und Demokratisierung Afghanistans von außen. Der Friedens- und Konfliktforscher Prof. Dr. Conrad Schetter beantwortet im Interview mit MDR WISSEN, warum "Nation Building" am Hindukusch gescheitert ist. Welche Parallelen gibt es in der Geschichte, welche Fehler hat der Westen gemacht und welche besonderen Bedingungen des südasiatischen Landes mit seiner großen Zahl ethnischer Gruppen und Sprachen wurden ignoriert?

MDR WISSEN: Gibt man bei Google die Suchbegriffe "nation building afghanistan" ein, erhält man die gigantische Zahl von rund 115 Millionen Ergebnissen! Doch war die "Nationenbildung" oder zumindest "Staatenbildung" in Afghanistan tatsächlich von vornherein das erklärte Ziel der internationalen Gemeinschaft?

US-Gebirgsjäger mit einem Chinook-Hubschrauber während der Afghanistan-Invasion 2001. Bildrechte: imago images / Photo12

Schetter: Nein, das war es ganz sicher nicht. Das Ziel war, als man 2001 nach Afghanistan hineinging, der Rachefeldzug, die Kompensation für "9/11". Es ging wirklich in erster Linie darum, dass die USA handeln mussten. Das war natürlich damit verbunden, die Strippenzieher von "9/11", sprich Osama Bin Laden, zu jagen. Das war an sich das erklärte Ziel. Das "Nation Building" kam allerdings sehr, sehr schnell dazu. Interessanterweise waren es die Europäer, die vor allen Dingen das "Nation Building" nach vorne gebracht haben, weniger die Amerikaner.

In der aktuellen Berichterstattung wird der chaotische Rückzug des Westens aus Afghanistan mit dem unrühmlichen Abzug der US-Amerikaner aus Vietnam 1975 verglichen. Wie zutreffend oder nichtzutreffend ist ein solcher Vergleich?

Schetter: Also es gibt natürlich zwei Ereignisse, mit denen man das Gegenwärtige vergleichen kann. Das eine ist Vietnam mit Saigon 1975. Das andere ist Kabul 1988, als die Russen in einer ähnlich unrühmlichen Weise Afghanistan verließen, was damals auch schon als das "sowjetische Vietnam" bezeichnet wurde.

Am 30. April 1975 fliegen Helikopter die letzten US-Bürger und Süd-Vietnamesen vom Dach der US-Botschaft in Saigon aus. Bildrechte: IMAGO / UPI Photo

Den Unterschied zu Vietnam sehe ich in zwei Punkten: Der Vietnamkrieg war natürlich einschneidend, weil es sozusagen die erste Niederlage der USA in diesem Sinne war. Nach Pearl Harbor war das eigentlich das Dramatischste, was die Amerikaner erlebt haben. Und es war zudem ein Krieg, in dem die Amerikaner natürlich enorm viele Verluste erlitten haben. Die sind in Afghanistan weitaus geringer ausgefallen. Auf der anderen Seite ist Afghanistan für die Amerikaner umso schmerzlicher, da hinter den Taliban ja keine Großmacht steht, sondern es sich wirklich um reine Guerillakrieger handelt, die sozusagen nicht das "Backing" haben, das andere Akteure haben.

Gibt es Parallelen zwischen dem gescheiterten Afghanistan-Prozess und der ebenfalls auf Druck von außen versuchten "Nationenbildung" auf dem Balkan (Ex-Jugoslawien) in den 1990er-Jahren?

Schetter: Eine ganz starke Gemeinsamkeit ist, dass es sich bei beiden Ländern um Vielvölkerstaaten handelt, wo die Politik enorm schwierig auszubalancieren ist. In Afghanistan hat man sehr stark auf den Balkan geschielt und versucht, vom Balkan zu lernen. Und das war vielleicht der Hauptfehler, dass man die Balkanpolitik auf Afghanistan anwendete, ohne zu sehen, dass Afghanistan ein ganz anderer Kontext ist, in dem auch ethnische Gruppe etwas ganz Anderes bedeutet, als auf dem Balkan.

Inwiefern wurden die besonderen Bedingungen in Afghanistan, wie die sehr große Zahl ethnischer Gruppen und Sprachen, im Stabilisierungsprozess ab 2001 ausreichend berücksichtigt?

Schetter: Man hat das versucht, indem man immer wieder gesagt hat, man macht einen inklusiven Frieden, eine inklusive Regierung. Man hat auf einer informellen Weise eine Balance versucht. Aber es gab einige Punkte, die immer unbestritten blieben. Etwa, dass ein Paschtune Präsident sein muss und ein Nicht-Paschtune gar keine Chance hat. Das galt immer unter der Hand als eines der zentralen Argumente.

2001 wird der Paschtune Hamid Karzai Präsident von Afghanistan (Foto von 2004). Bildrechte: imago images/AGB Photo

Man muss aber insgesamt sagen, dass in den 20 Jahren auch verschiedene ethnische Gruppen, die in der Vergangenheit eher benachteiligt wurden, zum ersten Mal zum Zuge kamen, wie etwa die Hazara. Also insgesamt würde ich doch sagen, dass man versucht hat, diese verschiedenen Gruppen zu fördern, eine Balance zu finden. Was nicht gelungen ist, ist, den islamischen Kosmos anzusprechen, der in dem Land eine enorm wichtige Rolle spielt. Das haben die Taliban ausgenutzt. Und vor allen Dingen, die Taliban haben diesen islamischen Kontext immer wieder angesprochen, was die Alltagswelten der Menschen weit besser erfasst.

Die USA wurden in der Öffentlichkeit nicht selten als zentraler "Treiber" für die angestrebte Demokratisierung nach westlichem Vorbild in Afghanistan dargestellt. Ist das zutreffend und wie ist die Rolle Deutschlands zu bewerten?

Deutsche ISAF-Soldaten patrouillieren 2003 in Kabul. Bildrechte: IMAGO / Stefan Trappe

Schetter: Wie gesagt haben sich die Amerikaner beim "State Building" eher zurückgehalten. Bei der Demokratisierung haben sie aber gerade in den ersten Jahren eine zentrale Rolle gespielt. Da ging es zum Beispiel um die Frage, ob Parteien zugelassen werden sollten oder nicht. Im Endeffekt hat das ja nicht stattgefunden, weil immer nur Einzelpersonen gefördert wurden.

Auch die Bundesregierung hat, wie alle westlichen Länder, sehr stark auf diese Demokratisierung gesetzt. Das Problem dabei ist, dass Demokratisierung auf funktionierenden Institutionen aufbauen muss. Und die haben wir in Afghanistan nicht gefunden. Das heißt, es wurden Wahlen durchgeführt, die letztendlich von Klientelismus und Korruption bestimmt wurden.

Warum ist die staatliche Stabilisierung und Demokratisierung in Afghanistan trotz hoher materieller Aufwendungen und Opfer am Ende gescheitert?

Schetter: Ich glaube, man hat sich nicht einmal darum bemüht, die Afghanen zu verstehen. Ich denke, das ist das Hauptproblem gewesen. Das heißt, dass man etwas auf Afghanistan übertragen hat, ohne Kultur und Gesellschaft des Landes zu verstehen und die Afghanen dort abzuholen, wo sie sind.

Mitglieder der afghanischen Regierung bei ihrer Amtseinführung im Dezember 2001. Bildrechte: imago/Belga

Ich würde nie behaupten, dass ein Land wie Afghanistan nicht demokratisiert werden kann. Auch in einem Land wie Afghanistan gibt es viele Menschen, die Demokratie, Moderne und eine aufgeschlossene Zivilgesellschaft haben wollen. Aber es gelang halt nie, wirklich alle Menschen mitzunehmen. Und vor allen Dingen hat es an der Zeit gefehlt. Auch wenn wir natürlich sagen: 20 Jahre sind ein langer Zeitraum. Man hat sozusagen das Pferd von hinten aufgezäumt. Man hat erst Wahlen abgehalten, bevor man die Institutionen aufbaute. Und die Sicherheit ist hintenangestellt worden. Das heißt, man ist hier viele Dinge in der falschen Reihenfolge angegangen.

Können Sie mir sagen, ob so ein Versuch des "Nation Building", der es am Ende ja in Afghanistan war, jemals irgendwann und irgendwo in der Geschichte gelungen ist?

Schetter: Ein Beispiel für ein gelungenes "Nation Building" nach einem Krieg ist unser eigenes Land, die Bundesrepublik Deutschland. Die wird immer wieder gerne genannt. Auch Japan wird genannt. Das sind die Beispiele, die aber natürlich deswegen hinken, weil sie im europäischen beziehungsweise im ostasiatischen Kontext stattfanden. "Nation Building" von außen initiiert ist meines Erachtens eine Sache, wo man zumindest in kurzen Zeiträumen bisher keine Erfolge finden kann. Vielleicht ein Land, wo man gegenwärtig eine gewisse Hoffnung hat, dass es funktionieren könnte, wäre der Irak.

Der ehemalige König von Afghanistan, Zahir Schah, der 1973 gestürzt worden war, hatte 2001 angeboten, in sein Amt zurückzukehren. Das wurde damals abgelehnt. Hätte er vielleicht ein verbindendes Element sein können?

Afghanistans letzter König Mohammed Zahir Shah (Mitte) 2003 mit Präsident Hamid Karzai (2.v.l.). Bildrechte: imago/Xinhua

Schetter: Ja und Nein. Hier hat man meines Erachtens 2003 bei der verfassungsgebenden Versammlung, der "Loya Dschirga", einen großen Fehler begangen und einen Joker ins Feuer geworfen. [Der damalige UN-Sondergesandte für Afghanistan] Zalmay Khalilzad, der jetzt auch die Verhandlungen mit den Taliban geführt hat, war dafür verantwortlich, dass man Zahir Schah zum Rücktritt aufgefordert und ins Exil geschickt hat. Zahir Schah hatte wirklich eine integrierende Funktion im Land. Und es gab sehr viele, die große Hoffnungen in ihn setzten. Auf der anderen Seite war er ein betagter Mann [1914 geboren]. Und seinen Verwandten traute man viel weniger zu. Deswegen ist die Frage, ob die Königsfamilie, die sich auch in den letzten 15 Jahren nicht mehr zu Wort gemeldet hat, ob die wirklich auf die Dauer so wichtig geworden wäre.

Das Interview führte Dr. Daniel Niemetz.

Prof. Dr. Conrad Schetter Bildrechte: BICC Bonn

Prof. Dr. Conrad SchetterProf. Dr. Conrad Schetter ist Friedens- und Konfliktforscher mit einem Schwerpunkt für Asien und Ostafrika sowie ein ausgewiesener Experte für Geschichte und Gegenwart Afghanistans. Er ist Director for Research des Bonn International Center for Conversion BICC und Professor für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Bonn.

Zahlreiche Publikationen sind von Schetter zu Afghanistan erschienen, u.a.:
- Kleine Geschichte Afghanistans, Beck, München 2004 (3. aktualisierte Auflage 2010).
- Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan. Reimer, Berlin 2003.

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