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Das Corona-Dilemma:Haltet zusammen - aber haltet Abstand?

26. April 2020, 10:00 Uhr

In Krisenzeiten zusammenzuhalten, erhöht unsere Überlebenschancen. Das hat uns die Evolution gelehrt. Das Bedürfnis nach Nähe in einer Notsituation steckt in unseren Genen. Doch die Ausnahmesituation, in der wir uns derzeit befinden, fordert genau das Gegenteil von uns: Abstand zu halten. Forscher aus München haben sich mit diesem Dilemma beschäftigt und Ideen entwickelt, ihm zu begegnen.

Bedrohungssituationen machen uns sozialer, davon geht das Team um die Professorin Ophelia Deroy der Ludwig-Maximilians-Universität München in seiner Untersuchung aus. Bedrohungen wie jetzt durch Covid-19 wecken in uns das Bedürfnis, uns mit anderen zusammenzuschließen und so gemeinsam die Krise zu bewältigen. Doch der physische Kontakt verschärft die Gefahr, denn er erhöht das Risiko, sich mit Covid-19 zu infizieren. Damit wird uns das, was uns instinktiv durch diesen Ausnahmezustand führen sollte, verwehrt. Damit steht für die Wissenschaftler das derzeit erforderliche "Social distancing" im Widerspruch zu unseren natürlichen Reaktionen auf Bedrohung.

Soziale Kontakte sind kein 'Plus', auf das wir verzichten können: Sie sind ein Zustand der Normalität.

Ophelia Deroy, Professorin für Philosophie des Geistes

Philopsophin Ophelia Deroy beschreibt sich auch als Experimentatorin mit interdisziplinärem Team. Bildrechte: LMU /C. Olesinski

Es ist also ein Grundbedürfnis des Menschen, dazuzugehören und mit anderen zu interagieren - in der Krise ganz besonders. Ophelia Deroy sieht durchaus Möglichkeiten, diesem Bedürfnis auch jetzt nachzukommen und trotzdem physisch distanziert zu bleiben: durch das Internet und die sozialen Medien. Auf diesem Wege virtuell weiterhin Freunde und Familie treffen zu können, helfe zumindest zeitweise, unsere sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, so die Philosophin.

Freier Internetzugang für alle

Damit ist der freie Zugang zum Internet für Deroy und ihre Kollegen ein wichtiger Beitrag zur öffentlichen Gesundheit. Dabei müsse man vor allem auch diejenigen berücksichtigen, die aufgrund von Armut, Alter und Krankheit oft von vornherein schon weniger soziale Kontakte haben und für die es nicht selbstverständlich ist, online zu sein.

Krisen machen uns sozialer - Corona eher nicht

Dass sich Krisen wie Naturkatastrophen oder Finanzkrisen auf unser Sozialverhalten auswirken, ist unstrittig. Seit 2014 wird an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin dazu geforscht. Henning Goersch lehrt dort Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement und kann nach ersten Ergebnissen einer aktuellen Studie zum Verhalten während der Corona-Krise sagen, das ca. die Hälfte der beschriebenen Verhaltensweisen anti-sozial bzw. egoistisch ist.

Das beginnt mit dem Hamstern von Klopapier, geht über absichtliches Anhusten, Streiten, bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen.

Henning Goersch, Professor für Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement

So schildert Goersch nur einige von insgesamt 7.200 Verhaltensweisen, die er und sein Team für ihre Studie zusammengetragen haben. Diese hatten sie dahingehend analysiert, ob sie eher ein soziales oder eher ein egoistisches Verhalten widerspiegeln. Das Ergebnis: ungefähr Hälfte-Hälfte, mit einer leichten Neigung zu anti-sozialen, egoistischen Verhaltensweisen.

Covid-19 und seine Folgen sind (noch) nicht sichtbar

Den Unterschied zur Reaktion auf andere Krisen erklären sich Henning Goersch und seine Kollegen mit der Sichtbarkeit der Katastrophe: Nach einem Erdbeben, einer Überschwemmung sind das Leid und die Schäden sofort für alle sichtbar. Das Helfen und mit Anpacken zeigt ebenfalls sichtbare Erfolge. Bei Corona ist das anders:

Ich sehe das Leiden nicht, das ist in den Krankenhäusern. Vielleicht wird es medial vermittelt, aber in meinem Alltag sehe ich es nicht.

Henning Goersch

Infizierte und Verstorbene bleiben anonym und tauchen als Zahlen in Statistiken auf. Die meisten von uns können nicht viel zur Änderung der Lage beitragen, außer dass wir uns selbst und andere schützen, indem wir uns zurückziehen und in eine Isolation begeben.

Neues Feld für die Sozialwissenschaften: Wie leben wir mit dem Corona-Alltag?

Nach den Medizinern widmen sich nun auch die Sozialwissenschaftler intensiv unserer neuen Realität. So hat das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) unter corona-alltag.de eine Umfrage ins Netz gestellt, die die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitssituation und das Familienleben der Menschen in Deutschland untersucht. Die Studie wird die Teilnehmer über einen längeren Zeitraum begleiten. Sie sollen dokumentieren, wie sich ihr Leben im Laufe der Krise zu verändert.

Wir möchten mit dieser Studie in der für uns alle surrealen Situation Orientierungshilfe leisten.

Lena Hipp, Soziologin und Studienleiterin

Die Forscher wollen auch untersuchen, wie Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen mit der Krise umgehen. Welchen Einfluss haben etwa Alter, Geschlecht und Herkunft auf die einschlägige Krisenerfahrung? Variieren die typischen Sorgen zwischen den verschiedenen Gruppen?

Überwiegend angepasstes Verhalten

Auch das Intitut für Psychologie und Arbeitswissenschaft an der Technischen Universität Berlin sammelt fortlaufend Daten über eine Onlinebefragung. Studienleiter Markus Feufel möchte herausfinden, wie die Menschen die Risiken einerseits wahrnehmen und wie sie medial kommuniziert werden. Andererseits wird erfragt, wie die Teilnehmer darauf reagieren. Das Ergebnis bislang: 90 Prozent der Teilnehmer erklärten, sich entsprechend der Hygienievorschriften zu verhalten. Dazu gehört auch die Soziale Distanzierung - so sehr sie auch unserem Wesen und unserem Überlebensinstinkt in Notsituationen widerspricht.